Dr. Elisabeth Raiser – Vorsitzende Aktion Sühnezeichen

Marburg, 30.10.2011

Liebe Frauen, liebe Freundinnen, liebe Schwestern,

wunderbar ist es hier zu sein! Für mich eine große Chance
und Ehre als Alterspräsidentin auch noch als erste ein Tischrede halten zu
dürfen! Aber das macht auch Herzklopfen, denn das ist etwas was sich auch im
Alter nicht legt!

Wahrscheinlich bin ich nicht die einzige der Rednerinnen,
die diese Chance als Ehre empfindet, und dieses Gefühl bringt mich auf eine
Frage, die ich mir in letzter Zeit manchmal gestellt habe. Denn bei Aktion
Sühnezeichen habe ich sehr oft, so wie früher schon in der Frauenarbeit und der
Ökumene mit Frauen und Männern zu tun, denen es eine Ehre ist, sich zu
engagieren und viel Zeit und Kraft, Fantasie und Mut für eine ehrenamtliche
Arbeit einzusetzen. Bei Aktion Sühnezeichen zum Beispiel liegt die Leitung von
Sommerlagern in der Hand von Ehrenamtlichen, ebenso sind die Teamer und
Teamerinnen bei den Vorbereitungsseminaren, bei den verschiedenen Tagungen
Ehrenamtliche. Freiwillige arbeiten im Büro und gehen in die Projekte in den
vielen Ländern in denen wir tätig sind. Bei so viel Engagement und Energie
kommt einem die Frage: bringen einem diese Ämter Ehre? Eher ist es umgekehrt:
wenn wir uns engagieren geben wir den Menschen, für die wir uns einsetzen die
Ehre. Zum Beispiel Überlebenden der Shoa, ehemaligen Zwangsarbeitern und ihren Familien,
Verfolgten, früheren Kriegsgefangenen und ihren Nachkommen, Sinti und Roma,
Menschen mit Behinderungen, an deren Inklusion wir mitarbeiten wollen;ich könnte die Liste fortführen. Ehre ist ein
mit Tradition beladener Begriff, der viel missbraucht worden ist. Ich bin froh,
dass wir ihn dennoch hochhalten und weitergeben an die, die in unserer
ehrsüchtigen Gesellschaft sonst keine Ehre erfahren. Vielleicht können wir mit
einem solchen Engagement auch ein Stück der Ehre wieder herstellen, das uns Deutschen
in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts verloren gegangen ist.

Die Ehre innerhalb Europas ist uns damals abhanden
gekommen. Die europäische Vision, die nach dem Krieg uns eine Zukunftim weiteren größeren Rahmen als dem
nationalen verheißen hat, verlangte nach einem Versprechen des „nie wieder“.
Nie wieder Faschismus, nie wieder Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen,
nie wieder Antisemitismus oder Rassismus, nie wieder Krieg. Wir haben dies
Versprechen gegeben mit Worten aber auch mit vielen Zeichen der Sühne. Das
Wunder dabei liegt darin, dass die Menschen, die Sühnezeichen leisten es ohne
Zweck tun aber darin gleichzeitig eine Bitte um Vergebung steckt. Das kann
zerbrochenen Beziehungen eine neue Chance geben, sozusagen eine Wiederauferstehung.
Tausende von Freiwilligen haben für uns alle stellvertretend so gehandelt und
damit neues Vertrauen in unser Land geweckt. Im Bewusstsein der Geschichte
gewachsenes Vertrauen ist einer der wichtigsten Bausteine für das neue Europa
geworden. Es steht in unserer wirtschaftlich dominierten Zeit wieder auf der
Kippe.

Manchmal frage ich mich, haben wir vergessen, dass Europa
ein politisches Projekt ist, das die Geschichte der Weltkriege zu überwinden
gesucht hat? Natürlich bedarf es zu dessen Verwirklichung es der Wirtschaft,
aber die Wirtschaftsollte doch nicht
selber das Projekt werden!Wir brauchen
wieder politische Visionen, die nicht untergehen in den Eurodebatten – wir brauchen
die Rückbesinnung auf die Geschichte, die überall in Europa so unglaublich
präsent ist. Jetzt gerade, wo Deutschland wieder so stark ist und die
Solidarität mit den andern europäischen Staaten in den vergangenen Monaten
nicht immer klar auf der Hand lag, kommen uns wieder Ängste der Nachbarn vor
einem aggressiven Deutschland entgegen.Wir brauchen eine geschichtsbewusste Friedensethik.Dazu rufen wir uns selbst und die Kirchen
auf. 


Vor einigen Monaten war ich wegen einer Zugverspätung mit
einem Rechtsanwalt im Taxi unterwegs und er sprach mich auf Aktion Sühnezeichen
an. „ Wissen Sie, ich habe erst vor kurzem erfahren, dass einer meiner
Großväter auch ein Täter war. Das lässt mich seither nicht mehr los. Wir haben
eine große Verantwortunggegenüber
Israel. Was kann ich tun?“ Wir sprachen über die Möglichkeiten einesFreiwilligendienstes in Israel. „Meinen Sie,
das kann ein Sühnezeichen sein? fragte
er. Die Menschen dort empfinden es so, sagte ich. Es sind lebenslange
Freundschaften zwischen Juden und Deutschen daraus entstanden. Allein die
Begegnungkann eine Befreiung sein.“
Unsere gemeinsame Fahrt war dann zu Ende, und ich weiß nicht,wie es bei ihm weitergehen wird. Aber mich
beschäftigt dies Erlebnis.

Die Geschichte ist noch lange nicht aufgearbeitet und
wird es vielleicht nie sein. Sühne ist bei einer geschichtsbewussten
Friedensethik ein Element.

Sühne scheint heute über 60 Jahre nach Kriegsende ein
altmodisches Wort, das wir Frauen in den vergangenen Jahrzehnten misstrauisch
beäugt und dekonstruiert haben. Es schien auf uns nicht zu passen, denn wir
fühlten uns nicht als Täterinnen,– bis kritische Feministinnen wie Christina
Türmer Rohr uns eines besseren belehrten. Heute ist die Notwendigkeit der Sühne
im Zusammenhang der Missbrauchsfällein
Schulen und Internaten wieder auf ganz neue Art aktuell geworden.

Liebe Frauen, wir werden die Welt nicht heilen können.
Aber wir können daran mitarbeiten, die Würde und Ehre der Menschen wieder
aufzurichten,die unehrenwerten Zielen
geopfert wurden. Unsere Tischgemeinschaft mag uns dazu stärken.

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