Tischrede für das Frauenmahl in Böblingen am 2. November 2014
„Macht Kirchentag klug?“
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Der Kirchenkreis Berlin Tempelhof war im Mai 2013 in Hamburg.
Auf dem Markt der Möglichkeiten.
Mit seiner Beratungsstelle für Trauernde.
An so einem Stand,
so meint man,
huschen die meisten Menschen lieber schnell vorbei:
Gut, dass es mich gerade nicht trifft –
Mein Kirchentag soll fröhlich sein!
Trauer passt da nicht hinein,
nicht jetzt, vielleicht später –
zu Käßmann wollte ich doch!
Wo ist die nochmal? Ach ja, schon wieder überfüllt
Aber so war es nicht.
Die Mitarbeitenden der Beratungsstelle haben die Menschen angesprochen:
„Wir hätten da etwas für Ihre Brieftasche!“
Kleine Kärtchen gaben sie den Vorüberziehenden in die Hand.
„Aber schauen Sie nur EINMAL in der Woche drauf.“
Das war zu spannend!
Die Neugier war geweckt –
Die Menschen lasen und waren erschrocken!
Manchmal erleichtert.
Sie blieben stehen, um zu reden.
Um zu teilen, was so unteilbar scheint.
Und was stand auf den Kärtchen?
Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.
Die Losung für den Kirchentag in Stuttgart!
Sie bricht ein Tabu.
Sie redet über das Sterben
um des Lebens willen.
Es geht um das Leben, das pure, im Angesicht der Endlichkeit.
Das haben Menschen im Markt erfahren,
die dem Tempelhofern begegnet sind.
Bibliolog ganz ohne Ausbildung.
Psalm 90 mitten ins Herz.
Vom Herzen ist eigentlich auch die Rede:
Nicht in der Luther-Bibel, aber im Originaltext, der ja bekanntlich in Hebräisch
geschrieben ist, und in allen anderen Übersetzungen –
So auch in der Kirchentagsübersetzung: „Unsere Tage zu zählen, das lehre uns, damit wir einbringen ein weises Herz.“
Anstatt: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
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Tage zählen also. Das Angesicht der Endlichkeit in ganz kleine Münzen gepackt: Wie machen wir das? Abend und Morgen. Morgen und Abend.
Jeden Tag achtsam sein.
Ein Kärtchen lesen, an die denken, die da sind und an die, die da waren
und an die, die da sein werden.
Ja. Frauen machen das. Sie denken an alle und alles.
Und am wenigsten an sich.
Sie zählen die Tage, immer für die anderen.
Für die Kinder die Schultage,
Für den beruflich eingespannten Ehemann die Arbeitstage.
Jeder Tag zählt.
Aber was zählt jeden Tag?
Vor zwei Wochen saßen etwa 100 Frauen im Kanzleramt zusammen.
Alle Bereiche dieser Gesellschaft waren vertreten –
Juristinnen, zum Beispiel Cornelia Horz, die Präsidentin des Landgerichts Stuttgart,
Gewerkschafterinnen, Kirchenfrauen, Unternehmerinnen,
Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen,
Medienfrauen, Studentinnen, Auszubildende
Sie haben darüber geredet, was Frauen in dieser Gesellschaft zählen.
Überall dasselbe Bild – Frauen stellen die Mehrheit derjenigen, die die Arbeit machen,
aber die Minderheit derjenigen, die an der Macht arbeiten,
obwohl sie oft die besseren Abschlüsse haben und die bessere Ausbildung.
Verantwortung und Entscheidung sind Männersache.
Untersuchungen fördern zu Tage, warum das so ist:
Für die Karriere zählen:
Selbstmarketing, Durchsetzungsfähigkeit und Entscheidungsfreude – sagen die Männer.
Für Frauen zählen: Empathie, Sozialkompetenz und Sachorientierung.
Das ist vermutlich für den Erfolg des Ganzen wichtiger, für die Karriere, oder nennen wir es einfach: den angemessenen Platz in der Arbeitswelt, aber irrelevant.
Die so genannte gläserne Decke hängt ganz tief.
Sehr persönliche Geschichten wurden erzählt – von Auszubildenden bei Siemens, die gefragt wurden, wie es denn mit ihrem Kinderwunsch stehe – wo jeder und jede weiß, dass solche Fragen in Bewerbungsgesprächen nicht erlaubt sind.
Fazit: Von allein bewegt sich gar nichts.
Ohne Quote wird sich nichts verändern. Also ist die Politik gefragt.
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Und sie hat jetzt, 11 Jahre nach der freiwilligen Selbstverpflichtung, reagiert: Es wird eine – zwar eingeschränkte, aber immerhin – gesetzliche Quote geben.
Aber auch wir sind gefragt:
Als Christinnen nach unseren Vorstellungen vom Zusammenleben von Frauen und Männern, nach unserem Selbstbild als Ebenbilder Gottes ohne Unterschied. Wir sind gefragt nach unserem Bild von Familie, nach Lebensformen, nach Kindern und nach Träumen von Glück und Zufriedenheit.
Was zählt am Ende, wenn ich auf mein Leben zurückblicke?
Habe ich all die Gaben, mit denen Gott mich beschenkt hat, wirklich klug genutzt und habe ich anderen Frauen, Freundinnen, Töchtern, Mut gemacht, ihre Gaben zu nutzen?
Habe ich den Kampf um Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern gekämpft
oder habe ich schon früh aufgesteckt, auch, weil es einfacher war?
‚Wir hatten ja das Haus und den Garten, ich war ja gut versorgt.‘
Oder kommen doch die Zweifel: Klar, ich hätte gern in meinem Beruf weiter gearbeitet, aber…
Klar, ich wurde ja gefragt, ob ich die Leitung übernehmen wollte, aber, aber, aber.
Bei dem Treffen im Kanzleramt hat mich Songül Ballikaya beindruckt – sie hat eine hohe Position bei der Telekom in Bonn und – zwei kleine Jungs. Ihr oberster Chef akzeptiert, wenn sie nachmittags nicht zum meeting, sondern zum Kindergarten geht.
Sie hat Mut und macht anderen Mut und wundert sich selbst manchmal darüber, wie sie das alles schafft.
Sie ist keine Super-Frau wie manche Politikerin, sie ist eine ganz normale Mutter, die eben auch einen anspruchsvollen Beruf hat.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
das Thema Nummer eins für Frauen und Männer, die sich um die Gesellschaft und die Kirche der Zukunft Gedanken machen.
Dazu gehört übrigens nicht nur die Pflege von Kindern, sondern auch die der Eltern.
Auch auf dem Kirchentag werden wir darüber reden:
Im Zentrum Älterwerden über pflegebedürftige Angehörige, im Genderzentrum und in der Podienreihe „Streit um die Familie“ über.
Und wir werden aktive Frauen und Männer erleben, die auf vielen Ebenen daran arbeiten,
dass unsere Gesellschaft Frauen keine unnötigen Barrieren in den Weg legt und
Männer stärkt, die sich Zeit für ihre Familie nehmen wollen.
Es kommt darauf an, dass Männer und Frauen in ganz unterschiedlichen
Lebenssituationen ihr Leben sinn-voll leben können, also Tage zählen und klug werden.
Das Leben ist kein Geschwätz, sagt Psalm 90, aus dem unsere Losung stammt.
Es ist zu kostbar, um einfach dahinzuplätschern.
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Unerschrockenes Denken an unsere Endlichkeit wendet uns zum Wesentlichen,
zu dem, was zählt – vor Gott und bei Gott,
Unsere Tage zu zählen, an die Endlichkeit zu denken,
ohne in Panik oder Trauer zu verfallen,
ist eine Kunst, eine klugmachende Kunst, eine Kunst, die das Herz weise macht.
Und für diese Kunst gibt es einen Lehrer – Gott selbst.
Die Schule Gottes steht uns offen!
Tagtäglich wartet der Lehrer des Lebens geduldig, bis wir unsere Lektionen gelernt haben.
So wird unser Glaube zur Quelle der Klugheit.
und Aufmerksamkeit – für die großen und kleinen Lernaufgaben.
Da passt so ein Merk-Kärtchen wie das von den Berlinern ganz gut.
Da passt die Losung des Kirchentages:
Damit wir klug werden!