Tutzinger Frauenmahl, 07.04.2016
Tischrede: Reformation in Bewegung
Pfarrerin Dr. Gabriele Hoerschelmann, Direktorin von „Mission EineWelt“
Liebe Schwestern
Die Reformation ist also Weltbürgerin geworden. Eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass eines der typischsten Reformationslieder ein Lied über eine Burg ist: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Es spiegelt ein Lebensgefühl wieder, in dem sich wohl viele Menschen des 16. Jahrhunderts gut wiedergefunden haben. Die Suche nach einer schützenden Burg, etwas das Halt gibt und Eindringlinge von außen erfolgreich abwehrt. Die Burg ist ein Symbol der Stärke, die Mauern sind dick und widerstandsfähig. Wer drin ist, ist sicher. Aber wehe, da wagt sich einer vor die Tore. Da draußen lauert die Gefahr, der Feind – und man kann nur ahnen, dass einem dort draußen übel mitgespielt werden kann. Wer in der Burg drin ist, tut also gut daran besser nicht hinauszugehen.
Offensichtlich kann es dabei aber nicht geblieben sein. Die schützende Burg hat auch wieder an Attraktivität verloren. Denn die Idee der Reformation hat über die Jahrhunderte hinweg ihren Weg in die ganze Welt gefunden. Wenn man danach fragt, wie es zur Ausbreitung des Protestantismus kommen konnte, dann fällt der Blick auf die Rolle der Mission. Das Christentum war natürlich von Anfang an in Bewegung, nicht erst seit Wilhelm Löhe seinen Satz von der „Kirche in Bewegung“ geprägt hat. Wann immer Menschen gereist sind, haben sie ihren Glauben in neue Gebiete mitgebracht. Auch wir würden nicht hier sitzen, hätte es nicht Missionare gegeben, die uns das Christentum mitgebracht hätten.
Leicht wird das Thema der Mission jedoch auch durchaus kontrovers. Denn die Mission hat sich zu bestimmten Zeiten und an manchen Orten im Schweif des Kolonialismus wiedergefunden, der mit einer Herabwürdigung der auf den fremden Kontinenten angetroffenen Ureinwohnern zu einer Bevormundung und oft auch zu einer Entfremdung ihrer eigenen Kultur geführt hat. Wenn man jedoch heute den Menschen in den verschiedenen Kirchen in Asien oder Afrika zuhört, so ergibt sich für manchen für uns vielleicht ein erstaunliches Bild: Denn an manchen Orten, ist die Ankunft des ersten Missionars im 19. Jahrhundert heute sogar weitaus wichtiger als das Jubiläum im fernen Wittenberg. Für viele Kirchen bedeutet die Ankunft der Missionare eine Feier der Freiheit, die ihnen diese gebracht haben, also ganz im reformatorischen Sinn. Die Botschaft, die allein Jesus Christus ins Zentrum stellt, der befreit und der Gnade und Vergebung zuspricht, ist als eine ermutigende Botschaft in die verschiedenen Teile der Welt gegangen. Die Reformation ist also in der Tat zur Weltbürgerin geworden. Ihre Grundidee hat sich weltweit ausgebreitet und ihr geistiges Erbe und Theologie wird heute nicht nur in Deutschland gelebt, in Skandinavien oder den USA. Mehr als 40 Prozent der Angehörigen allein der Lutherischen Reformationsfamilie, leben heute auf der Südhalbkugel. Wittenberg war zwar der Ausgangsort, aber die Kirchen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas haben die Idee der Reformation aufgenommen und spielen uns wieder Themen zurück, die im Lichte des Kerngedankens der Reformation neu überdacht werden müssen. Welche Themen sind das, die von uns heute weltweit Aufmerksamkeit verlangen? Wo müssen wir unseren reformatorischen Standpunkt im wörtlichen Sinne beziehen und sagen: „Hier stehen wir!“
Die Kirchen, die Mitglieder im Lutherischen Weltbund sind, haben durchbuchstabiert, was der reformatorische Leitsatz der Rechtfertigung durch die Gnade Gottes heute weltweit bedeutet. Dabei sind drei Themenfelder definiert worden, die für durch Gottes Gnade befreite Menschen, nicht mit dem Evangelium zu vereinbaren sind.
- 1. Erlösung – für Geld nicht zu haben. Die Erlösung ist Gottes Gnadengeschenk und verwahrt sich gegen so manche modernen Trends und Konzepte, die Erlösung auf dem Markt der Religionen als Ware anbieten. Besonders der Gedanke der Erlösung erfährt dabei gerne eine Kommerzialisierung in Form von „prosperity gospels“: „Wenn Du richtig glaubst, wird es Dir gut gehen. Und du wirst auch zu Wohlstand kommen.“ Erlösung ist aber für Geld nicht zu haben.
- 2. Menschen – für Geld nicht zu haben. Ein großes Problem weltweit ist der Menschenhandel. Nach Schätzungen sind davon jährlich 29 Millionen Menschen betroffen, 90 % davon sind Frauen und Mädchen. Jeder Mensch ist jedoch ein einzigartiges nach Gottes Bild geschaffenes Wesen und muss in seiner Würde und Unversehrtheit geachtet werden. Auf dieser Grundlage müssen sozial brisante Themen wie Menschenhandel, die Wirtschaftspolitik aber auch unser heutiger Umgang mit Flüchtlingen beleuchtet werden.
- 3. Schöpfung – für Geld nicht zu haben. Es gibt wohl kaum einen Flecken auf dieser Erde, auf dem dieses Thema nicht brisant wäre. Ich war während meiner 11 Jahre Berufstätigkeit in Hongkong viel in Asien und besonders in China unterwegs. Die Luftverschmutzung ist etwas was mich nachhaltig erschüttert hat. Man kann tagelang mit dem Zug durch China fahren und dabei kaum weiter als ein paar Meter sehen. Nicht etwa weil Nebel wäre, sondern weil sich der Smog der Schwerindustrie wie eine Decke selbst über Wälder und Berge legt. Im Angesicht von durchaus notwendiger industrieller und wirtschaftlicher Entwicklung ist das Thema Schöpfung – für Geld nicht zu haben enorm wichtig und bedarf eines wachsamen kritischen Blickes aus theologischer Sicht, dass die Natur als Gottes Schöpfung unserer Ausbeutung entzogen werden muss.
Diese Themen betreffen uns heute in einer Welt, in der Menschen internationalen Handel treiben, in andere Länder reisen, Beziehungen über Kontinente hinweg pflegen, Flüchtlingen, die auf der Flucht vor Krieg und Gewalt von einem Land in ein anderes wandern oder Menschen die mit ihren Firmen für einige Jahre im Ausland arbeiten. Sie betreffen uns in unserem Land, in unserer Gesellschaft und in unserer Kirche. Denn die Reformation ist schon lange aus ihrer Burg ausgezogen. Sie hat lange Fußwege auf sich genommen, hat Schiffe bestiegen und Flugzeuge. Die Reformation in der Einen Welt ist also in Bewegung.
Daher würde ich Ihnen gerne für die Reformation ein anderes Bild anbieten. Und zwar dem des Hafens. Zugegeben, es mag mir deswegen in den Sinn kommen, weil ich mit meiner Familie in den letzten 11 Jahren in einer pulsierende Hafenmetropole gelebt habe. Der Hongkonger Hafen ist der drittgrößte Handelshafen weltweit. Jährliche kommen und gehen dort ca. 500.000 Schiffe ein und aus. Sie bringen Waren herein und nehmen andere Waren mit. Und mit ihnen 25 Millionen von Menschen. In einem Hafen ist also ständig Bewegung. Auch ein Hafen bietet natürlich Schutz, allerdings weniger als eine Burg. Im Hafen weiß man: Wir leben nicht durch uns alleine, sondern durch den Austausch mit Fremden. Wir sind weltoffen. Wir sind durchaus vorsichtig gegenüber Menschen, die wir nicht einschätzen können. Aber prinzipielles Misstrauen können wir uns im Hafen nicht erlauben. Da würden wir zu wenig von den Segnungen, die außerhalb unseres Hafens gewachsen sind, profitieren. Auf lange Sicht wären wir nicht nur nicht überlebensfähig, sondern wir würden uns auch nicht weiterentwickeln. Fazit also: Lieber weniger Sicherheit, dafür mehr Energie von außen.
In diesem weltoffenen Austausch macht das Thema Reformation und die Eine Welt für mich Sinn. Es ist eine Bewegung des gegenseitigen Nehmens und Gebens, das von der Erfahrung der Liebe Gottes und seiner unverkäuflichen Gnade getragen ist. Es ist der Austausch der guten Güter unseres Glaubens von Menschen aus aller Welt im sicheren Hafen Gottes, die dann wieder aus diesem Hafen heraus in die ganze Welt getragen werden. In diesem Sinn wünsche ich uns allen eine gute Lebens- und Glaubensreise im Jahr der „Reformation und der Einen Welt“.