Dr. Ilka Werner – Pfarrerin, Vorsitzende des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Düsseldorf, 06.11.2011

Sehr geehrte Damen, liebe Schwestern!

Auf der einen Seite mache ich mir um die Zukunft der
Kirche keine Gedanken – muss ich auch nicht – denn ob sie besteht oder nicht,
hängt von mir nicht ab, auch nicht von uns, sondern – Gott sei Dank! – vom
Heiligen Geist. Sonst könnte ich überhaupt nicht mehr ruhig schlafen.

Auf der anderen Seite mache ich mir um die Zukunft, also
um die nächsten 15, 20 Jahre der Evangelischen Kirche im Rheinland eine Menge
Gedanken, na, eher Sorgen, denn wie sie aussieht oder nicht aussieht, hängt
dann doch auch von mir ab – als Pfarrerin, als Landessynodaler, als
Vorsitzender des Theologischen Ausschusses. Und da kann ich manchmal so gar
nicht gut schlafen. Und aus all dem, was mich vor allem in den letzten Wochen
ins Grübeln bringt, formuliere ich zwei Punkte für die Zukunft der Kirche:

1. Mein erster Punkt ist ein Plädoyer gegen die Sehnsucht
nach einfachen Wahrheiten.

Während des Papstbesuches gab es in meinen
Berufsschulklassen öfter Dialoge wie diesen:

Schüler: „Frau Werner, wie heißt noch mal der
evangelische Papst?“

Ich: „Es gibt keinen evangelischen Papst.“

Pause. Schüler: „Aber, wer sagt denn dann, was richtig
ist?“

Ich: „Keiner. Evangelisch heißt: Selber die Bibel lesen,
sich selber Gedanken machen, miteinander im Gespräch und Gebet herausfinden,
was richtig ist.“

Schüler: „Hm. Jeder? Dann ist aber evangelisch viel
schwieriger.“

Ja, evangelisch ist in dieser Hinsicht „schwieriger“: Es
gibt keine irdische Instanz, die den Kurs der evangelischen Kirchen verbindlich
festlegen kann, und darum auch keine einheitliche Kirche mit einheitlichen
Lehren. Mit der Entstehung evangelischer Kirchen – von Anfang an im Plural –
hat sich der religiöse Pluralismus etabliert. Eine Vielfalt von Konfessionen,
nicht aufeinander reduzierbar, und in Beziehung zueinander gehalten durch die
Orientierung an der gleichen Mitte.

Ich halte die evangelische Vielfalt für einen großen
Schatz, mit dem wir wuchern sollten.

Es gibt jedoch, so meine ich zu spüren, einen Sog nach
pragmatischer Reduktion, nach einfachen Wahrheiten. Das halte ich für fatal.
Wo es, evangelisch gesehen, einfach wird, wird es falsch: Die
Reformationsdekade aus Marketingaspekten Luther-Dekade zu nennen, suggeriert
eine falsche Grundidee von Reformation – denn Reformation war von Anfang an
vielfältig: die Hussiten, die Reformierten in den oberdeutschen Städten und der
Schweiz, die Schwärmer, die schreibenden Frauen, der europaweite Erfolg der
Genfer Akademie – Reformation gleich Luther ist irreführend. Oder, ein zweites
Beispiel: Der – katholische – Schulleiter, der in jeden Raum der Schule ein
Kreuz hängen möchte, beißt bei der evangelischen Schulpfarrerin zu Recht auf
Granit: Werteorientierung kann man nicht an die Wand hängen, sie muss mit den
konkreten Menschen gelebt werden, und dabei darf nicht der Einfachheit halber
reduziert werden, alle Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen müssen
einbezogen werden und in ihrer Besonderheit wahrgenommen werden. Genau so ist
die politische Rede vom christlichen Deutschland oder christlichen Europa eine
verfälschende Vereinfachung.

Evangelische Kirche könnte – für sich und die
Gesellschaft – noch viel mehr sensible Wächterin gegen Verallgemeinerungen und
Vereinfachungen sein, z.B. im Blick auf Frauen und Männer (das hieße, in der
EKiR schleunigst ein vernünftiges Genderreferat zu konzipieren); im Blick auf
Christen und Muslime (das heißt, Beziehungen und Bundesgenossenschaften mit den
verschiedenen islamischen Traditionen zu suchen und nicht immer vereinfachend
von „dem Islam“ reden); im Blick auf den Staat Israel und die
Staatengemeinschaft (das heißt, so schwierig das ist, weiterhin die biblische
Rede von Erwählung alltagsbezogen zu Wort kommen lassen); im Blick auf Leben
und Tod (das heißt, sich einfachen Lösungen bei den ethischen Fragen rund um
Beginn und Ende des Lebens weiterhin zu verweigern und die jeweilige Wahrheit
verschiedener Perspektiven wahrnehmen helfen).

Wir müssten uns dazu mehr Mühe machen, innerhalb der
Gesellschaft unabhängig von ihr zu sein, d.h. mit einem modernen Stichwort:
eine Gegenkultur aufbauen.

Wir werden so immer mehr Kirche der Freiheit – indem wir
uns zur Anwältin der Unterschiede machen. Denn Freiheit entsteht zum Gutteil
aus der Erfahrung anerkannter Differenz.

Neben der Achtung der Differenz gehört – und das ist mein
zweiter Punkt – die Wahrung des Zusammenhaltes zu den evangelischen Schätzen.
Nicht nur Verallgemeinerungen zerstören das Evangelische, auch Vereinzelung. Da
steckt zur Zeit innerkirchlich ein großes Problem:

Eine Kollegin, Pfarrerin wie ich, spricht von ‚meinem
Arbeitgeber’, nicht mehr von ‚meiner Kirche’. Und sie ist nicht die Einzige. Da
drückt sich eine riesige Distanz zur Landeskirche aus.

Wir stecken in der EKiR in einer umfassenden
Strukturreform. Die Zahl der Reformprozesse kann man an einer Hand gar nicht
mehr abzählen. Die kirchenleitenden Gremien und Personen sind strukturell
überfordert. Teure Fehler passieren. Der Überblick geht verloren. Menschen
bleiben auf der Strecke. Wir haben eine Vertrauenskrise in der Kirche. Es
müsste Zeit investiert werden, um das – auch emotional – gemeinsam in den Griff
zu bekommen. Das passiert viel zu wenig.

In Zukunft werden Gemeinden, Kirchenkreise und die
Landeskirche immer enger zusammenarbeiten müssen. Im Moment aber driften die
Ebenen eher weiter auseinander. In der Landeskirche gibt es einen Zug zur
Vereinheitlichung, manchmal auch zur Vereinfachung. In den Gemeinden und an
kirchlichen Orten kommt vieles aus der Landeskirche gar nicht an, fehlt oft
Lust und Energie, über den eigenen Kirchturm hinaus zu denken, koppelt man sich
von dem landeskirchlichen Zug ab. Es braucht Zeit, Energie und Kreativität, da
gegen zu steuern.

Darum: Notbremse ziehen, stoppen, innehalten, klären, was
wirklich dran ist, und das dann nicht unter einem netten Oberthema oder Event
verstecken, sondern wirklich auf die Tagesordnung setzen, damit Entscheidungen
spürbar getroffen und dann auch als getroffen wahrgenommen werden.

Wenn nicht einer sagt, was richtig ist, dann braucht es
Geduld und Mühe, Richtungsänderungen zu verwirklichen. Das ist dran. Wir
werden die synodale Kultur neu beleben – damit die Richtungsentscheidungen
wirklich in den Synoden getroffen werden und dort nicht nur nachvollzogen
werden.

Das heißt für die Leitenden: nicht pragmatisch allein
entscheiden, sondern Synoden respektieren und ihnen etwas zutrauen bzw.
zumuten. Das heißt für die einzelnen Gemeindeglieder, Mitarbeitende,
Pfarrerinnen und Pfarrer, Presbyterinnen und Presbyter: nicht nur den eigenen
Kirchturm sehen. Sich – viel mehr als jetzt – mitverantwortlich fühlen für das
Ganze.

Weil Kirche nicht Selbstzweck ist. Sondern etwas zu tun
hat: verkündigen.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören!

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