Dr. med. Dipl. theol. Monika Stuhlinger – Leiterin der Psychiatrischen Nachsorgeklinik Tübingen, Medizinerin und Theologin

Tübingen, 26.10.2011

Meine Begegnung mit Glaube und Kirche in meiner Arbeit
als Psychiaterin und Psychotherapeutin ist meist vielschichtig, schwierig und
manchmal auch traurig.

Religion und Kirche begegnen mir als Hintergrund und
Inhalt von psychischen Störungen, als biographische Prägung, die häufig
krankmachende Haltungen unterstützt, insbesondere aber auch als Inhalt von
psychotischen und depressiven Vorstellungen. Kirche und Religion begegnen mir
als Versuch, Halt und Struktur in chaotischen inneren und äußeren
Lebensverhältnissen zu finden. Im Krankheitserleben von Depression oder
Psychose wird aus dieser Haltsuche oft ein System von Vorstellungen, das Selbst
und Alltag aufwertet, aber gleichzeitig innere Not, Ungenügen, Leistungsdruck,
Selbst- und Fremdansprüche umfasst. Dies hat mit befreiender Theologie, wie sie
mir in meinem Studium und in der Kirche begegnet ist, wenig bis nichts zu tun.
Selten begegnen mir Religion, Kirche, Glaube, aber v.a. die Gemeinde als
wirklich Halt gebende und die Person stützende Faktoren.

Die Depression lässt Religion und Glauben als
niederdrückenden Anspruch, als Schuld, Sünde und Versagen erscheinen. Der Wahn
macht Religion und Glauben zu einem auf den betroffenen Menschen zentrierten
Geschehen, was ihn oder sie hervorhebt, gleichzeitig einzigartig und einsam
macht, das nicht mehr eingebunden ist in Gemeinschaft, auch nicht in die von
Gemeinde oder Kirche.

Ich möchte von einer jungen Frau berichten, mit der ich
mehrere Monate in der Rehabilitationstherapie gearbeitet habe: ihre
schizophrene Psychose kreist inhaltlich um einen göttlichen Auftrag, den sie
nicht genau greifen kann, dessen Ausführung sie deshalb nicht leisten kann, der
sie daran hindert, ihr Leben unabhängig vom gefühlten göttlichen Plan zu
entwickeln und zu planen. Sie erlebt das Gefühl von Erwähltsein und
gleichzeitig von vollständigem Versagen und äußerem Gesteuertsein ohne eigene
Kontrolle über das Leben.

In der therapeutischen Arbeit war zunächst wichtig, ihr
zu versichern, wie ernst ich nehme, dass sie glaubt und dass ich ihren Glauben
nicht als Wahn abwerte, wie sie es in der bisherigen Behandlung erlebt hat.

Daneben war mir besonders wichtig, mit ihr zusammen zwei
Unterscheidungen fassen zu können:

1.Was ist Glaube
einerseits und was ist psychotisches Denken bzw. Wahn andererseits?Wie lässt sich das unterscheiden und wo kippt
das eine ins andere – und warum?

2.Was ist gute
und schlechte Theologie bzw. Glaubensvorstellung? Was erwartet Gott von uns
Menschen und was nicht? Ist Gott fordernd und strafend oder zugewandt,
annehmend und gnädig?

Ein Unterscheidungskriterium, das wir für die Grenze
zwischen Glauben und psychotischem Denken definiert haben, ist, dass wahnhafte
Gedanken unkonkret, vage, schlecht greifbar und in ihrem genauen Inhalt nicht
fassbar sind – und damit auch schlecht kommunizierbar sind.
Glaubensüberzeugungen hingegen sind bezogen, aufs Konkrete hin auslegbar,
austausch- und kritisierbar, für die Gemeinschaft nachvollziehbar.

Unterscheidungskriterien zwischen Wahn und Glauben sind
also dieintersubjektive
Nachvollziehbarkeit, das Sich-Verständigen-Können und die Korrigierbarkeit.

Die hilfreiche, das eigene Leben fördernde Theologie haben
wir mit Vorstellungen von einem Gott verbunden, der das Gute, das Wohl, das
Gelingen im Leben möchte und unterstützt. Die krank machende oder krank
haltende Theologie haben wir mit Vorstellungen von einem Gott gleichgesetzt,
der Menschen zum Spielball seiner Forderungen macht, sie ins Gefühl von Unwert
und Ungenügen versetzt und ihnen gleichzeitig nicht ermöglicht, selbst zu
entscheiden und zu handeln.

Dann haben wir im Leben der Patientin nach Gründen
gesucht, sich so zu fühlen, als ob Kontrolle und Einfluss auf alles Wichtige
und insbesondere ihr inneres Erleben verloren gehen. Wir haben Gründe gefunden,
die ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit und nach Fordern und Richten erklären –
also auch erklären, warum ein strafender Gott wichtig wäre, auch wenn er sie
selbst quält.

Die Sinnsuche mit meiner Rehabilitandin beantwortet nicht
die Frage, warum sie krank wurde und warum ausgerechnet sie das alles erleben
muss.

In der Krankheitsgeschichte meiner Rehabilitandin sind
eine Gemeinde und ein Pfarrer sehr wichtig, den sie als Ansprechpartner, als
Mensch, der sie entlastet und der ihr ihren Wert versichert, ihren Auftrag
bestätigt, wahrgenommen hat.

Leider hat er lange nicht erkannt, dass sie krank wurde
bzw. war.Leider gibt es in unseren Gemeinden wenig Wissen über
psychische Erkrankungen, obwohl diese doch immer mehr zunehmen und die
Gemeinden mit vielen Einzelpersonen zu tun haben, die betroffen sind. Leider gibt es immer noch die Vorstellung, dass der
Glaube vor psychischen Erkrankungen schütze.

Ich erlebe Glaube und Kirche als eine Eigenwelt – im
subjektiven Erleben meiner PatientInnen – aber auch im Selbstverständnis der
Professionellen, die mein Arbeits- und Erlebensfeld, die Medizin betreten:

Die Rolle der Klinikseelsorgerin oder des Klinikseelsorgers
wird noch viel zu oft als ein komplementäres, kritisches, korrigierendes, auf
jeden Fall der Welt der Medizin fremdes Wirken verstanden.

Da gibt es Abgrenzungsbedürfnis der Anliegen,
Zuständigkeiten und Inhalte, die mit den PatientInnen besprochen werden.

Da gibt es Fremdheit und Nichtwissen und gegenseitiges
Nicht-übersetzen der Sprachspiele und Interpretationsmuster.

Da gibt es eine Haltung der Seelsorge, das „Eigentliche“
zu vertreten, die von den MedizinerInnen als abwertend erlebt werden kann.

Das gibt es den Rettungsimpuls, die PatientInnen
gegenüber dem machtvollen Zugriff der Medizin zu stärken.

Die meisten MedizinerInnen und TherapeutInnen
andererseits haben Berührungsängste gegenüber dem Thema Glaube und Religion –
z.T. weil sie selbst gebrochene biographische Erfahrungen haben, aber auch
deswegen, weil das philosophische Nachdenken aus der Medizin verschwunden ist.
M.E. ist es kein Einzelfall bei PsychotherapeutInnen und PsychiaterInnen, einen
Affekt des Verdachts gegenüber Religion und Glauben zu haben, diese
verursachten Erkrankung und verhinderten Heilung – ein Befund, der mich traurig
stimmt, der aber, weil Medizin und Theologie getrennt auf die PatientInnen
zugehen, nicht durch Gegenerfahrungen korrigiert werden kann.

Was erwarte ich nun von der Kirche, was wünsche ich mir
angesichts der zunehmenden Zahl der von psychischen Erkrankungen betroffenen
Menschen?

-ich wünsche
mir mehr Interesse für krankheitsbezogenes Wissen aus den Gemeinden und aus den
kirchlichen Führungsgremien

-ich wünsche
mir mehr Bewusstsein für die Richtigkeit eines gemeinsamen fürsorglichen
Handelns im Interesse psychisch kranker Menschen und ein gemeinsames Zugehen
auf die Betroffenen

-ich wünsche
mir mehr Dialog, mehr Einladungen an PsychiaterInnen und TherapeutInnen ins
Gemeindeleben hinein, um mehr zu erfahren und auch um eine gemeinsame Sprache
zu finden

-hilfreich wäre
es, wenn mehr KlinikseelsorgerInnen in die Fallbesprechungen oder Visiten der
klinischen Routine einbezogen würden – wenn diese das selbst als wichtig
erlebten

-ich wünsche
mir das gemeinsame Eintreten von MedizinerInnen und kirchlich engagierten
Menschen dafür, dass in der Medizin und insbesondere in der Psychiatrie wieder
mehr Zeit für das Gespräch entsteht, dass dies bezahlt wird – und nicht aus
Zeitnot durch Medikamente ersetzt werden muss

-ich wünsche
mir, dass die Kirche sich dafür einsetzt, dass Entscheidungen über die
Mittelverteilung im Gesundheitswesen zugunsten der sprechenden Medizin
getroffen werden – und dass dies in den Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen
der eigenen Trägerschaft auch darin sichtbar wird, sich dem zunehmenden Druck
zur Ökonomisierung – und d.h. zum Sparen an der Zeit mit Menschen zu
widersetzen

-ich erwarte
von der Kirche auch mehr Sensibilität für die Belastungen, denen die
MitarbeiterInnen ausgesetzt sind, die – nicht nur in den kirchlichen
Krankenhäusern und Heimen – selbst zur Hochrisikogruppe für psychische und
psychosomatische Erkrankungen gehören

-ich erwarte
von der Kirche, die Erkrankungen der Psyche als gemeinsames Handlungsfeld
zwischen Medizin, Psychologie und Theologie wahrzunehmen, aktiv mitzugestalten
und insbesondere auch der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
entgegenzutreten.

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