Dr. Rebecca Seidler – Dipl. Sozialpädagogin, Liberale jüdische Gemeinde Hannover

Hannover, 07.03.2013

„Achtung vor dem Leben – eine jüdische Perspektive“

Sehr geehrte Damen,

Respekt – auch mit den Begriffen Achtung, Anerkennung und Wertschätzung zu umschreiben. Diese Werte finden besonderen Ausdruck in der jüdischen Ethik und sind somit Grundwerte des Judentums.

Doch in welchen Bereichen wird deutlich, dass Respekt nicht nur in der jüdischen Ethik festgeschrieben steht, sondern auch tatsächlich umgesetzt und gelebt wird?

Meine berufliche Grundausbildung ist die der Sozialpädagogik und schaut man auf die Geschichte und Entwicklung der Sozialen Arbeit wird deutlich, dass insbesondere jüdische Frauen dieses Berufsfeld geprägt haben. An dieser Stelle möchte ich die jüdische Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin Bertha Pappenheim erwähnen, die 1904 in Deutschland den jüdischen Frauenbund gründete. Dieser Frauenbund war zum einen feministisch und setze sich für die Rechte der Frauen ein. Zum anderen basierte der Verein auf den Werten der jüdischen Ethik und der jüdische Ansatz von Wohltätigkeit bekam hierdurch eine praktische Erfahrung.

Das wesentliche Ziel jüdischer Ethik ist die Erreichung von „Tikun Olam“, die Verbesserung der Welt.  Doch wie kann die Welt verbessert werden? Der Ansatz der jüdischen Wohltätigkeit ist hierbei bedeutend. Er beinhaltet als Grundwert den Aufbau und Erhalt der menschlichen Würde. Respekt und Achtung gegenüber seinen Mitmenschen drückt sich nach jüdischem Verständnis durch eine gleichberechtige Begegnung auf Augenhöhe aus. Die Würde des Menschen bleibt nach jüdischem Verständnis bestehen, wenn ein Hilfesuchender nicht von oben herab beraten oder durch Almosen beschenkt wird, sondern wenn der Hilfesuchende dabei unterstützt wird, sich selbst zu helfen.

Der jüdische Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe fand Eingang in große Theorien der Reformpädagogik und prägt bis heute das Studium der Sozialpädagogik und auch die Sozialarbeit in jüdischen Gemeinden.

Eingangs betonte ich, dass der Begriff Respekt auch mit dem der Achtung umschrieben werden kann.

An dieser Stelle möchte ich Ihren Blick auf die Kleinsten unserer Gesellschaft lenken, auf die Kinder. Kinder haben im Judentum einen besonders hohen, wenn nicht sogar den höchsten Stellenwert inne. Sie zu versorgen, zu erziehen und zu beschützen ist die Hauptaufgabe jüdischer Eltern. Der jüdische Pädagoge und Arzt Janusz Korczak schrieb hierzu das bekannte Buch „Das Kind hat ein Recht auf Achtung“. Er schrieb das Werk in den 20er Jahren – und dennoch spreche ich seinem Werk eine hohe Aktualität zu. Was meint Korczak mit diesem Rechtsanspruch auf Achtung für Kinder? Er klagt an, dass Kindern eine mangelnde Achtung und ein mangelndes Vertrauen entgegen gebracht wird seitens der Erwachsenen, die sich über die Kinder stellen. Er betont, dass Erwachsene oftmals meinen, sie wüssten, was für das Kind am Besten sei, meinen, den richtigen Weg für das Kind zu kennen und lenken es demnach in ihre gewünschten Bahnen ohne dabei auf die Belange des Kindes selbst zu achten. Zudem müssen sich Kinder häufig den Lebensgewohnheiten der Erwachsenen anpassen und sich dort einfügen, ohne dass dabei ihre eigene Lebenswelt beachtet wird. Korczak spricht in diesem Zusammenhang von einem Machtgefälle, welches aufzulösen ist. Er mahnt, man spräche bei einem Kind oftmals nur von dem zukünftigen Arbeiter und dem zukünftigen Staatsbürger, aber oft vergessen Erwachsene, dass das Kindesalter lange, wichtige Jahre des menschlichen Lebens sind. Seine wesentliche Aussage ist: Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind schon Menschen. Jedoch mit einer anderen Begriffsskala, einem anderen Erfahrungsschatz, anderen Trieben und Gefühlsreaktionen. Erwachsene sorgen sich um die Zukunft, haben Ängste vor dem Tod, doch Kinder können noch jeden Augenblick genießen, sei es einem Marienkäfer zuzugucken – und diese Freude muss man ihnen lassen. Seine Forderung ist es an dieser Stelle, jeden Augenblick zu achten und ernst zu nehmen, denn er stirbt und wiederholt sich nicht.

Wir leben gegenwärtig in einer sehr schnelllebigen Zeit und es wird von den Kinder heute bereits im frühesten Kindesalter viel verlangt – sie mögen vom ersten Tag an Durchschlafen, das Kind soll sich dem Alltag der Eltern anpassen, das Kind muss zu einem bestimmten Zeitpunkt laufen und sprechen können, das Kind muss Spaß haben an zig Beschäftigungskursen wie Babyschwimmen, Yoga für Kleinkinder, Englischkurs oder musikalische Früherziehung etc. Bei all diesen Terminen steht nach meiner Überzeugung nicht das Wohl des Kindes im Vordergrund, sondern das der Eltern.

Den Kindern wird ein Leben vorgeplant, welches sie durchlaufen müssen, aber die eigene Selbstbestimmung des Kindes bleibt außer Acht. Und hier greife ich Korczaks Forderung vehement auf: Das Kind hat ein Recht auf Achtung und Selbstbestimmung. Ich erachte es als dringend gefordert, dass wir den Kindern unserer Gesellschaft die Zeit einzuräumen, Kind zu sein und wir sind aufgefordert, mehr Achtung und Respekt vor der Kindheit zu zeigen.

Der jüdisch-ethische Grundsatz der Achtung und des Respekts gegenüber anderen gilt nicht nur im Umgang mit Menschen, sondern bezieht sich auch auf den Umgang mit Tieren.

Massentierhaltungen und Massenschlachthöfe sind nicht mit der jüdischen Ethik zu vereinbaren und werden daher strikt abgelehnt. In Amerika besteht bereits eine bedeutende jüdische Vegetarismus-Bewegung und auch hier in Deutschland ist eine zunehmende bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema in jüdischen Kreisen zu erkennen. Im Judentum gelten bestimmte Speisevorschriften, kosheres Fleisch muss demnach besonders zubereitet werden, um die Achtung vor dem Tier zu wahren. Ein Tier darf nicht mit anderen Tieren zusammen geschlachtet werden, da das Tier sonst durch die Geräusche und die Gerüche der anderen Tiere spüren würde, dass es gleich geschlachtet wird und Angst bekommen würde. Auch das Schächten nach jüdischem Ritus unterliegt dem jüdischen Grundsatz des respektvollen Umgangs mit dem Tier. So ist es eine religiöse Pflicht, dass das Tier so schnell und schmerzlos geschächtet wird, wie möglich – hierfür ist demnach eine besondere Ausbildung notwendig. Zudem ist es eine religiöse Pflicht, bevor das Tier geschächtet wird, sich bei diesem einzelnen Tier zu bedanken und es zu segnen.

Respekt – nach jüdischem Verständnis also nicht nur eine Angelegenheit zwischen Erwachsenen, sondern vor allem auch eine innere Einstellung gegenüber Kindern und auch Tieren, sich diesen wertschätzend und achtsam zu widmen. Da weder Kinder noch Tiere ein starkes Sprachrohr haben, möchte ich Sie mit meinem Input auffordern, wenn wir über Respekt sprechen, Ihren Blick auf die Kinder unserer Gesellschaft und auf den Umgang mit Tieren zu richten – Respekt und Wertschätzung sollte jedem Menschen, ob klein oder groß, und jedem Tier bewusst entgegengebracht werden – erst dann kann „Tikun Olam“, eine Verbesserung der Welt und des Miteinanders, eintreten.

Herzlichen Dank für Ihr Zuhören.

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