Elfriede Steffan – Dipl.-Soziologin, Leitung SPI Forschung gGmbH Berlin

Tischrede zum Frauenmahl Konstanzer Konzil 25.06.2016

Ja, wie hält unsere Gesellschaft es heute mit der Prostitution?

Anders als meine geschätzte Vorrednerin kann ich Ihnen hier nicht von meinen eigenen Erfahrungen in der Sexarbeit (wie wir heute sagen) berichten. Damit Sie meinen Vortrag besser einordnen können, habe auch ich ein berufsständisches Kleidungsstück angelegt: Sie sehen die Schriftzeichen auf meiner Jacke, ich bin Sozialwissenschaftlerin und gehöre daher zur schreibenden Zunft.
Meine Kenntnisse stammen also aus Studien, Analysen sowie der Begleitung von Projekten für Sexarbeiterinnen, die ich in den letzten 25 Jahren zusammen mit Kolleginnen machen durfte. Ja wir haben viele Sexarbeiterinnen und auch männliche Sexarbeiter persönlich nach ihren Lebensumstände und Einstellungen befragen dürfen, andere haben wir mit Fragebögen erreicht. Wir sind dankbar für das uns entgegen gebrachte Vertrauen.

Wenn Sie auf die Webseite meines Instituts gehen, werden sie viele dieser Forschungsberichte dort finden. Ich sage es ihnen lieber gleich: Eine allgemeingültige Einschätzung der Arbeits- und Lebenssituation von Sexarbeiter*innen in Deutschland kann ich Ihnen nicht bieten, niemand kann das, eine solche Forschung und in der Folge davon: ein solches Wissen gibt es nicht.
Es ist also weder bekannt, wie viele Personen in Deutschland sexuelle Dienstleistungen anbieten, noch in welchen unterschiedlichen Lebenswelten dies geschieht und – um die Frage, die ihnen sicher zu diesem Thema sofort kommt – ,wie eigenständig und freiwillig oder wie unfreiwillig und leidvoll dies geschieht.

Was allerdings klar zu Tage tritt, wenn man sich intensiv mit dem Thema befasst, ist, dass eine große Vielfalt unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten in der Sexarbeit existiert und dass – wie im allgemeinen Leben auch – diese Vielfalt den größten Raum einnimmt. D.h. es gibt fast überall Licht- und Schatten, aber eher selten ausschließlich schwarz oder ausschließlich weiß. Was aber offensichtlich ist und immer wieder eine große Rolle im Leben von Sexarbeiter*innen spielt, ist das Stigma. Damit Sie verstehen, was ich damit meine und wie dieses „Stigma“ wirkt, muss ich es ihnen erklären:
In der vom Bundesfrauenministerium beauftragten Evaluation eines Bundesmodellprojekts konnten wir herausarbeiten, wie gesellschaftliche Stigmatisierung wirkt und welche Folgen eine Verinnerlichung des Stigmas, das sogenannte Self-Stigma bis heute hat. Diese Stigmatisierung ist ursächlich für eine Ausgrenzung von Sexarbeiterinnen aus der Gesellschaft und auch für eine Abgrenzung, die die betroffenen Personen selbst vornehmen.
 
Der Soziologe Goffmann beschreibt Stigma in den siebziger Jahren als ein Merkmal, nachdem eine davon betroffene Person nicht nur als nicht „normal“ wahrgenommen wird, sondern insgesamt abgewertet und in ihrer Sozialen Identität geschädigt wird.
Andere Autoren und Autorinnen, die sich heute mit dem Thema befassen, sehen die Ausgrenzung in Folge einer Stigmatisierung noch radikaler. Für Link und Phelan (2001) besteht Stigma aus der Gesamtheit der negativen Deutungen, die dem Merkmal (zum Beispiel der Sexarbeit) zugeschrieben werden.
Personen mit Stigmatisierungserfahrungen richten ihr gesamtes Leben darauf ein, weitere Nachteile für sich und ihnen nahestehenden Personen zu vermeiden. Sie entwickeln ein sogenanntes „Stigma-Management“, wieder ein Begriff des Soziologen Goffmann (1975), und zwar für alle Bereiche des Alltags.

Die von uns befragten Frauen und Männer haben sehr eindrücklich beschrieben, welche Erfahrungen sie als Sexarbeiter*innen gemacht haben und wie sie selbst mit dem Thema Sexarbeit umgehen. Sie waren davon überzeugt, dass Prostitution von der Mehrheit der Gesellschaft, als „Schande“ angesehen wird und beschrieben sich selbst als von den anderen, den „Normalen“ oder auch „Soliden“ abgestempelt. „Für die ganz normalen Menschen bin ich halt ganz unten“ sagte beispielsweise eine Befragte. Eine Erwähnung der eigenen Sexarbeit im Kontakt mit Menschen außerhalb der Sexarbeitsszene wurde möglichst vermieden. Musste es aber doch sein, beim Jobcenter beispielsweise und trafen sie dabei auf eine Mitarbeiter*in, die sie freundlich und vorurteilsfrei behandelte, versetzte sie das in ungläubiges Erstaunen.

Nach einem Ausstieg aus der Sexarbeit übernahmen einige die gesellschaftliche abwertende Einschätzung und schämten sich für ihre Vergangenheit, ja sie verachteten sich im Nachhinein selbst für ihr früheres Leben als Sexarbeiterinnen. Sie hatten damit das Stigma verinnerlicht, aus dem public stigma war ein self stigma geworden (Deitz et al., 2015) Die Gesellschaft der „Normalen“ scheint für Sexarbeiterinnen mit einem verinnerlichten Stigma eine vollkommen andere Welt zu sein, zu der sie nicht (mehr) gehören und zu der sie keinen Zugang haben.
Aus diesem System der Stigmatisierung auszusteigen gelingt nur wenigen ohne Unterstützung. Für Aktivistinnen der Sexarbeitsszene ist die Flucht nach vorn sicher ein Weg, Sie outen sich auch öffentlich als Sexarbeiter*innen. Doch welche Form von Unterstützung benötigen die vielen anderen?
Die wichtigste Unterstützung für Sexarbeiter*innen ist der Abbau gesellschaftlicher Ausgrenzung und der Aufbau vorurteilsfreier Beratung und Begleitungen bei sozialen, rechtlichen und gesundheitlichen Problemen.

Wie ist nun die kommende Gesetzgebung einzuschätzen?

Eine ernsthafte systematische Erforschung der Sexarbeit ist bisher nicht erfolgt. Viele bisherigen Maßnahmen und politischen Gestaltungen erfolgen trotz aller Bemühungen im Rahmen von Evaluierungen etc. eher auf der Grundlage von moralisch geprägten Überzeugungen. Zu erkennen ist dies auch an der Polarisierung zwischen Pro und Contra-Sexarbeit in der öffentlichen Debatte. Die große Vielfalt, die das Leben und Handeln in der Sexarbeit bestimmt, kommt so gut wie gar nicht vor.
Das System der Stigmatisierung wird nicht durchschaut und als etwas begriffen, dass unbedingt in sachgerechte politische Planung einbezogen werden muss.

Wollen wir Sexarbeiter*innen tatsächlich Gehör verschaffen und ihnen eine gesellschaftliche Akzeptanz ermöglichen, die ihnen selbst die freie Wahl lässt, was sie tun und was sie nicht tun, müssen wir sie als handelnde Menschen akzeptieren und ihnen auch so begegnen.
Den wichtigsten Beitrag zu einer sozialen und gesundheitlichen Verbesserung der Situation von Sexarbeiter*innen in Deutschland sehen wir deshalb in einem bedarfsgerechten Ausbau einer Hilfestruktur, deren Angebote den Rat- und Hilfesuchenden mit Akzeptanz und Respekt begegnen und die freiwillig und anonym wahrnehmbar sind. Das ist insbesondere wichtig für diejenigen, die auf Grund von Stigmatisierungserfahrungen nur schwer Vertrauen fassen können.
Und hier gäbe es viel zu tun!

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit…


Literatur
BMFSFJ (Hrsg.) (2015). Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Bundesmodellprojekt Unterstützung des Ausstiegs aus der Prostitution. www.bmfsfj.de
Deitz, M. F., Williams, S. L., Rife, S. C. & Cantrell, P. (2015). Examining Cultural, Social, and Self-Related Aspects of Stigma in Relation to Sexual Assault and Trauma Symptoms. Violence Against Women 21 (5), 598-615.
Goffmann, E. (1975). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.:Suhrkamp.
Link, B. & Phelan, J. (2001). Conceptualizing stigma. Annual Review of Sociology 27, 363–385
Steffan, E. & Arsova Netzelmann, T. (2015). Aufsuchende Soziale Arbeit im Feld gesundheitlicher Angebote für Sexarbeiter*innen. In: Albert, M. & Wege, J. (Hrsg.) (2015). Soziale Arbeit und Prostitution. Springer Wiesbaden
Steffan, E; Kavemann, Barbara; (2013) : Zehn Jahre Prostitutionsgesetz und die Kontroverse um die Auswirkungen. In: APuZ 9/2013

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