Dagmar Müller, Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland und Mitglied im Präsidium von EFiD, kämpft für soziale Gerechtigkeit und gegen die Armut von Frauen im Alter | Interview: Anne Lemhöfer
Frau Müller, Sie sind seit 2023 Mitglied im Präsidium der Evangelischen Frauen in Deutschland. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt?
Da ich seit 13 Jahren Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland war, kannte ich Verbandsarbeit. Was mir daran gefällt ist die Möglichkeit, theologische Arbeit mit Politik und dem ganz konkreten Alltag in den Gemeinden zu verschränken. Bei EFiD kommt die bundesweite Vernetzung dazu. Ich mag es nicht, wenn nur geredet wird, sondern ich will das Leben von Frauen auch konkret besser machen. Ich hoffe, dass das zum Beispiel mit unserem Wohnprojekt in Bonn gelingt, das Seniorinnen und Senioren ab 60 offensteht und zu 75 Prozent Teil des sozialen Wohnungsbaus ist. Es ist für alle offen, aber die meisten Bewohnerinnen sind Frauen. Altersarmut ist weiblich, das ist auch eine Folge der klassischen Lebensläufe in diesen Generationen. Außerdem helfen wir mir unserer Mutter-Kind-Klinik auf Spiekeroog dreifach belasten Frauen: Sie sind Mütter, gehen arbeiten und immer mehr von ihnen pflegen teilweise noch ihre alten Eltern oder andere Angehörige.
Welche Probleme haben die Frauen, die im Wohnprojekt leben?
Im Haus der Frauenhilfe sind im Rahmen des Projektes „Leben in Gemeinschaft” 62 barrierefreie und teilweise auch rollstuhlgerechte Wohnungen mit zwei bis drei Zimmern entstanden. Die Gemeinschaft gewährleistet eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben innerhalb des Hauses aber auch im Wohnquartier und wirkt einer Vereinsamung aktiv entgegen. Dadurch ermöglichen wir älteren Menschen, in ihren eigenen vier Wänden zu bleiben und dennoch bei Bedarf ambulante Hilfe und Pflege in Anspruch
zu nehmen.
Ist das im Alltag zu spüren, wie knapp es finanziell bei manchen aussieht?
Natürlich haben viele der Bewohnerinnen finanzielle Sorgen, aber das heißt nicht, dass sich dort nicht Freundschaften bilden und tolle Gemeinschaften entstehen. Als wir vor vier Jahren eröffnet haben, musste sich erst noch einiges zurechtruckeln, gerade auch die unterschiedlichen sozialen Hintergründe sorgten manchmal für Sprengstoff. Heute gibt es gemischte Cliquen und gemeinsame Aktivitäten, was mich sehr freut. Ich komme selbst aus einer Arbeiter:innen- und Gewerkschaftsfamilie und merke, dass die Schere zwischen Arm und Reich und zwischen den Einkommen sich weiter öffnet, aber auch zwischen denen, die Vermögen erben und denen, die es nicht tun. Ich beobachte, dass wir es mit einem neuen Klassismus zu tun haben. Mir bereitet das Sorgen. Bezahlbarer Wohnraum für Ältere ist ein echtes Problem. Die steigenden Mieten überhaupt, das ist wirklich eine Katastrophe. Das Thema soziale Gerechtigkeit muss wieder mehr in den Fokus rücken.
Ist die evangelische Kirche nicht selbst auch eine ziemlich elitäre Institution?
Ja, das ist so, und das trifft auch auf viele Gemeinden zu. Menschen in prekären Verhältnissen tauchen in der Gemeindearbeit vor allem als diejenigen auf, denen von engagierten Ehrenamtlichen geholfen wird: bei der Tafel oder bei Besuchsdiensten. Ich finde, das sollte nicht so sein. Wenn wir die Idee von einer Kirche Jesu Christi ernst nehmen, sollten wir Gemeinden anstreben, in denen sich alle begegnen, und zwar auf Augenhöhe. Zu früheren Zeiten war das auch eher noch so. Es ist doch verrückt: Heute rufen wir aktiv nach mehr Inklusion, und früher war die Inklusion einfach da, ohne dass man sie herbeireden musste. In der Kirche traf man sich.
War es für Sie schwer, als Arbeiterkind im Theologiestudium Fuß zu fassen?
Nein, überhaupt nicht. Meinen Eltern war Bildung wichtig und sie haben in unsere Bildung investiert. Als mein Bruder und ich fertig studiert hatten, waren sie pleite. Aber glücklich. Klar bin ich dann im Theologiestudium Kommiliton:innen aus ganz anderen Familien begegnen, es gibt ja diese gutbürgerlichen Pfarrerdynastien und Akademikerhaushalte. Nach Überwindung meiner Unsicherheit diesbezüglich, bin ich dann in den Gremien der Kirche gerne Stachel im Fleisch geworden und habe immer wieder Beamtentum und patriarchale Strukturen kritisiert. Das Thema soziale Gerechtigkeit kam allerdings eher am Rande vor, und das ist ja bedauerlicherweise heute auch noch so.
Sollte sich die Kirche aktiv etwa für eine Vermögens- oder Erbschaftssteuer einsetzen?
Ich bin mir nicht sicher, ob sie das tun sollte. Ich persönlich bin sehr dafür, es ist doch Wahnsinn, dass allein durch Steuerhinterziehung der Gesellschaft 100 Milliarden Euro im Jahr verloren gehen – geredet wird aber nur über die Milliarden beim Bürgergeldbetrug. Die Superreichen würden es kaum merken, wenn man sie gerechter besteuert. Jede:r hat seinen/ihren Anteil an der Infrastruktur und dem sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft nach seinen/ihren Möglichkeiten zu tragen! Nur so entsteht sozialer Frieden. Die Kirche ist für Arme und Reiche da, es geht nicht darum, Menschen zu verurteilen, nur weil sie zufällig reich geboren wurden. Ich finde eine Debatte und eine eindeutige Position zur sozialen Gerechtigkeit in der Kirche wichtig – eine direkte Forderung nach einer bestimmten Steuer ist aber Aufgabe der Politik.
Um nochmal zum Thema weibliche Altersarmut zurückzukommen: Bereitet Ihnen auch aus dieser Perspektive der aktuelle feministische Rollback Sorgen?
Ja, und zwar sehr. Ich kann es oft kaum glauben, wenn ich von jungen Frauen höre, dass sie sich erst mal nur auf Ehe und Familie und weniger auf ihren Beruf konzentrieren wollen. Dass sich immer noch so viele darauf einlassen! Ein Mann ist doch keine Altersvorsorge! Es ist wichtig, unabhängig sein zu können, um freie Entscheidungen treffen zu können. Das ist auch eine politische Forderung: Menschen, die Kinder versorgen, müssen steuerlich entlastet werden, das Ehegattensplitting gehört abgeschafft. Die Versorgung Angehöriger darf keine Armutsfalle sein. Unser Denken und unsere Politik begünstigen finanziell männlich geprägte Werte. Das muss sich ändern.
Der Feminismus ist also sehr weit weg davon, zu den Akten gelegt werden zu können…
Ja, allerdings. So leid es mir tut, das Frauenthema ist noch lange nicht abgehakt, schade eigentlich, das hätten wir früher auch anders erwartet. Sogar meine 80-jährige Mutter ist für die Abschaffung des Paragrafen 218! Da kommt aber leider noch einiges an Arbeit auf uns zu.