Eva-Maria Armbruster – Stellvertreterin des Vorstandsvorsitzenden des Diakonischen Werks Württemberg

Vortrag von Eva-Maria Armbruster,
Stellvertreterin des Vorstandsvorsitzenden des Diakonischen Werks Württemberg

Deutscher Evangelischer Kirchentag 2015 Stuttgart
Frauenmahl, 04.06.2015 19:30 Uhr

Maja, 14 Jahre alt, wird betrunken von der Polizei aufgegriffen. Nach Hause gebracht werden kann sie nicht: ihre Mutter ist zur Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen Depressionen, ihr Vater seit mehreren Tagen nicht mehr nach Hause gekommen. Sie erzählt, dass dies öfters vorkomme, er arbeite auf Montage. Wenn er zurückkehre, schlafe er erst einmal lange. Ihr 10 jähriger Bruder sei derweil bei einer Freundin der Mutter. Sie, Maja, versorge sich selber. Es stellt sich heraus, dass sie seit mehreren Jahren für die Familie sorgt, den kleinen Bruder morgens für die Schule richtet, nach dem eigenen Unterricht einkauft, kocht, wäscht und putzt, wenn sich die Mutter tagelang im abgedunkelten Schlafzimmer aufhält. Seit etwa 1 Jahr häufen sich bei Maja Schule schwänzen und exzessives Trinken. Maja kommt zunächst in der Notaufnahme einer Einrichtung der Jugendhilfe unter. Schon am nächsten Tag reißt sie aus. Wird wieder gefunden. Wieder aufgenommen. Das wird sich noch etliche Male wiederholen.

Frau P., 42 Jahre alt, war lange Ingenieurin in einer Automobilfirma. Eine geschätzte und angesehene Mitarbeiterin. Bis ihr die Anforderungen zusehends über den Kopf wuchsen, die Konflikte mit Kollegen zunahmen, die Eheprobleme ihre ganze Kraft kosteten, schließlich die Scheidung, der Verkauf des Hauses, die Schulden. Sie öffnete Rechnungen nicht mehr, nahm Tabletten zum Schlafen und Tabletten zum Wachwerden. Schleppte sich durch die Tage bis kam, was kommen musste: bei der nächsten Umstrukturierung verlor sie ihren Arbeitsplatz. Sie ging nicht aufs Arbeitsamt, weil sie nicht auf Kosten der Gesellschaft leben wollte und weil sie sich schämte. Als alles zu viel wurde: die Blicke der Nachbarn, Ratschläge der Freunde, Vorwürfe der Familie, und sie auch die Miete nicht mehr bezahlen konnte, kaufte sie sich von ihrem letzten Geld einen guten Schlafsack und versuchte es auf der Straße. Dort lebt sie seit 5 Jahren. Es gelingt ihr nach eigener Erzählung ganz gut. Der Druck sei weg. Sie sammle Flaschen, bis sie genug habe für Zigaretten und für Essen. Dafür brauche sie etwa 2 Stunden täglich. Ihre Kleidung sei aus der Kleiderkammer. Sie könne duschen in einer Wärmestube der Wohnungslosenhilfe, habe einen einigermaßen sicheren und festen Schlafplatz. Es gehe ihr gut, sie brauche keine Hilfe. Es fehle ihr eigentlich nur eine sinnvolle Beschäftigung.

Frau S ist Ende 30, als sie unverhofft schwanger wird. Nach der ersten Überraschung fangen sie und ihr Mann an, sich sehr auf ein weiteres Baby zu freuen. In der 18. SSW erhalten sie die niederschmetternde Nachricht: Ihr Kind hat verschiedene Fehlbildungen, am Herz, am Kopf, an der Bauchdecke, die einzeln zwar alle operiert werden können, zusammengenommen aber auf eine seltene und lebensbedrohliche Chromosomenstörung hinweisen. Niemand kann ihnen sagen, ob ihr Kind überhaupt auf die Welt kommen wird, ob es ein paar Tage oder Wochen wird leben können. Eine kaum erträgliche Situation. Herr und Frau S. sind völlig geschockt und verzweifelt. Frau S kann es kaum fassen, dass sie schwanger ist, das Kind in ihrem Bauch spürt und zugleich damit rechnen muss, dass es kaum Lebenschancen haben wird. In der Beratung wird ihnen vollends klar: Ein Schwangerschaftsabbruch kommt für sie beide nicht in Frage. Ihr Kind soll leben dürfen, solange seine Kraft reicht. Sie wollen es aber zugleich nicht um jeden Preis am Leben erhalten. Ihr Sohn Malte ist vor kurzem tatsächlich geboren, er hat sich mit einem unbändigen Lebenswillen in die Welt gekämpft. Seine Eltern konnten ihn noch nach Hause nehmen, mit ihm reden, lachen und weinen, ihn umsorgen, unterstützt durch Großeltern, Freunde, die Diakoniesozialstation. Für drei Wochen hat seine Lebenskraft gereicht. Seine Eltern sagen unter Tränen: „Es waren drei gute Wochen für uns, wir möchten Malte nicht missen.“ 

3 Geschichten von vielen aus der vielfältigen Arbeit der Diakonie. Manchmal sind es Episoden in einem Leben, die Hilfe und Unterstützung erforderlich machen – manchmal brauchen Menschen die Angebote der Diakonie ein Leben lang. Manchmal sind es Geschichten vom Gelingen, manchmal Geschichten vom Scheitern. Die Mitte ist bunt – so lautet das Motto der Diakonie auf diesem Kirchentag im Viertel rund um die Leonhardskirche. Bunt wird sie – die Mitte und sie – die Diakonie durch die vielfältigen Lebensgeschichten. Lebensgeschichten der Menschen, für die Diakonie da ist und der Menschen im Haupt- und Ehrenamt.

Aber erzählen diese biografischen Ausschnitte tatsächlich von gelingendem oder misslingendem Leben? Was hieße überhaupt „gelingendes Leben“? Wer wollte sich eine solche Bewertung über das Leben anderer anmaßen? Und was sollte geschehen mit einem Leben, das als misslungen betrachtet würde? Biblischem Denken ist der Gedanke fremd, ein Menschenleben könne als Ganzes gelingen oder als Ganzes misslingen. Als Christinnen glauben wir, dass Leben einmalig und kostbar ist. Jedes Leben. Von Anfang an. Bis zum Schluss kann Wandel geschehen. Und die Leitvorstellung vom „gelingenden Leben“ ist vielleicht mehr eine persönliche Überforderung, für Hilfesuchende wie für Helfende. Die Theologin Gunda Schneider spricht sogar von der „Tyrannei des gelingenden Lebens“. Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind – und nicht nur sie -, brauchen zuvorderst die Zusage, dass Leben nicht jederzeit leicht und glücklich sein muss. Dass Gesundheit eben nicht die Hauptsache ist. Dass Glück und Trauer fast gleichzeitig möglich sind wie bei Familie S. Dass jemand ihre Fähigkeiten wahrnimmt, Respekt hat vor ihren Lösungsversuchen – auch wenn sie damit vielleicht die Situation von außen betrachtet noch verschlechtert haben wie Frau P. auf der Straße. Dass jemand sie kennt, an sie denkt, sie sucht wie die 14-jährige Maja. Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, haben ein feines Gespür dafür, ob sie tatsächlich persönlich gemeint sind. Ob andere zumindest versuchen, ihnen gerecht zu werden. Ob sie Freiraum haben für Veränderung, für selbstbestimmte Entscheidungen oder ob sie in ein Schema der gelungenen Hilfe gepresst werden sollen.

Was können wir als Gesellschaft, als Kirche dazu beitragen, dass sich Menschen in schwierigen Lebenssituationen nicht ausgegrenzt fühlen? Was können wir lernen von ihnen?

Keine Biografie wirft nur Licht oder nur Schatten. Die Würde des Einzelnen hängt nicht ab von Leistung und Erfolg, Glück und Gesundheit. Ja, es liegt sogar eine gewisse Befreiung in der Erkenntnis, dass körperliche und geistige Perfektion ein lebensfeindlicher Mythos ist. Es gibt Gelingen im Misslingen und das gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Be-wertungen werden verzichtbar, wenn wir Respekt haben davor, wie Menschen geworden sind unter schwierigsten Bedingungen. Es tröstet uns, dass wir als Menschen auf Hoffnung angelegt sind und immer wieder neu anfangen können. Jeder und jede soll die Chance dazu bekommen.

Diakonisches Engagement so verstanden, verändert Menschen, Kirchengemeinden, unsere Gemeinwesen. Daraus erwächst uns in der Diakonie auch ein politischer Auftrag. Wir treten ein für den Wert sozialer Arbeit und das heißt eben auch für faire Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen der Professionellen (übrigens sind dies zu 3 Vierteln Frauen). Wir bringen uns in die Gesetzgebung ein, streiten für eine gerechte Verteilung von Mitteln und von Chancen. Wir setzen uns dafür ein, dass menschliche Würde in jeder Lebenssituation gewahrt ist und dafür, dass Menschen nicht ausgegrenzt werden.

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