Fanny Dethloff – Pastorin

Flensburger Frauenmahl am 30. Oktober 2014

Tischrede: Halt und Haltung von Fanny Dethloff

Ehemalige Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, jetzt Pastorin für den
Pastoralpsychologischen Dienst im Kirchenkreis Plön-Segeberg

Alles, was wir bisher gehört haben, ist ja wahr und richtig. Der gute Ort, ein Ort zum Leben, wo Geborgenheit wohnt und Beheimatung ist, wo Freunde und Familie uns stützen und gleichzeitig ein innerer Ort, der Kraft schenkt.

Aber die Erinnerung an „Hier stehe ich – ich kann nicht anders“- muss gewagt werden. Der Reichstag zu Worms, die drohende Reichsacht. Ein Satz, in einer Situation auf Leben und Tod.

Ich stehe hier, ich kann nicht anders

Das ist ein Ort

Ein Ort, den man sich nicht selbst gewählt hat

Und der doch eine freie Wahl beinhaltet.

Ich stehe hier – und an keinem anderen Ort

Hierher bin ich gestellt worden

Und ich kann nicht anders

Selbst wenn ich wollte.

Menschenrechtsarbeit hat viel von diesem Wort Luthers.

Man kann nicht die Würde eines Menschen mit Füßen treten

Und meinen,

es hätte keinen Einfluß auf die eigene Würde

das eigene Befinden

den eigenen Sinn im Leben.

Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Wie oft habe ich den lutherischsten aller Sätze schon im Kopf gehabt. Gewissensentscheidungen in den Zeiten der Flüchtlingssolidarität, aber auch sonst in meinem Leben. 5 Jahre ehrenamtliche Arbeit in einem Frauenhaus, Seelsorge und Sterbebegleitung (wohin ich jetzt zurückkehre), Altenheimarbeit und Gerontopsychiatrie, Minderjährige Unbegleitete Flüchtlinge und Abschiebungshaft, Gefängnisseelsorge und Menschenrechtsfragen – es gab viele Orte, wo der Satz wichtig war.

Man braucht einen guten Halt, eine Art Fundament oder Boden unter den Füßen, sonst macht man zu leicht Kompromisse – auch wenn das Leben letztendlich daraus besteht.

Halt, das ist die geistige Heimat,- auch wenn sonst Beheimatungen in unserer mobilen Welt immer schwerer erscheinen.

Halt hat man, man verliert ihn auch zwischendrin.

Man nimmt eine Haltung ein, umfassend gesellschaftlich, direkt vor Ort lokal, politisch global und doch gespeist aus den theologischen oder weltanschaulichen Wurzeln, den Werten, die einen prägen. Populismus und schnelle Meinungsmache kann nur der entgegenhalten, wer einen Halt besitzt. Und umgekehrt führt das Einüben einer kritischen Haltung auch zu mehr Halt.

Blickt man in diesen Zeiten auf die Situation, wird man schnell ratlos: immer mehr Flüchtlinge kommen, die gerät Heimunterbringung immer mehr in die Schlagzeilen, die Sicherheitsdienste dort sind oft die, vor denen man Flüchtlinge schützen muss, statt dass sie die Flüchtlinge schützen, und soziale Arbeit ist rar im Land. Man kann da schnell an den Punktkommen, wo Verzagtheit sich breit macht. Zudem knicken demokratische Parteien wieder etwas mehr ein, wenn sie auf die AfD starren und deren undemokratische und menschenrechtsfeindliche Parolen gegen Flüchtlinge an Boden gewinnen.

Und auf europäischer Ebene ist der Europäische Menschenrechtsgerichtshof völlig überlastet und soll es nach dem Willen der EU-Mitgliedstaaten anscheinend auch sein. Zu klar und richtungsweisend waren viele Urteile und damit Ohrfeigen für völkerrechts- und europarechtswidrige Praktiken der Staaten. Doch gibt es einen deutlichen Rechtsruck auch auf europäischer Ebene – und das hoffnungsvolle „Woher kommt uns Hilfe?“, das oft an Brüssel und Straßburg gerichtet war von flüchtlingssolidarischer Seite, klingt zaghafter.

Dennoch muss gesagt werden, dass eine Menge in den letzten 20 bis 25 Jahren erreicht wurde und Flüchtlingsunterstützungsgruppen aller Orten entstehen und wachsen. Die Gesellschaft ist gespalten durch alle Lager hinweg – ob Kirchen, Gewerkschaften oder Sportclubs: zu viel Migration – oder alles machbar, diese Einschätzung spaltet das Land.

Zwischen Ohnmachtsgefühl und Hoffnung, zwischen Willkommenskultur-Gerede von Politikern und echter pragmatischer Hilfe, zwischen Flüchtlingsabwehr wie das Eindämmen von Rettungsprogrammen zur See und Menschenrechtsforderungen gepaart mit kreativen Aktionen zugunsten und mit Flüchtlingen gemeinsam – das Bild ist komplex und passt sich oft der eigenen Stimmungslage an.

Halt fordert zum Widerspruch und Widerstand heraus. Wer Wurzeln hat in Menschenrechtsarbeit in unserer biblischen Tradition, ist gefordert.

Denn unsere Bibel ist ja ein Buch der Flüchtlings- und Wanderungsgeschichten.

So gibt es bei allen gemischten Gefühlslagen ein wackeres „Trotzalledem“ von vielen Engagierten, die sich in die Arbeit mit und für Flüchtlinge stürzen und gegenhalten: da werden Internationale Cafés gegründet, Deutschkurse ehrenamtlich angeboten, Behördenlotsen geschult, Partnerschaften und Freundeskreise gegründet und Kinderspielangebote interkulturell geschaffen, Nachhilfe für die neu ankommenden SchülerInnen und Mütterkreise, um die eigene Kultur und die Erziehungsgrundlagen mit zu vermitteln, angeboten. Flüchtlinge werden einbezogen und befragt, was sie wollen – gegen alles behördliche Verwaltungsgebaren gegenan. Gartenprojekte („guerilla gardening“) verschönern trostlose Containersiedlungen und schnell gezimmerte Bänke laden davor zum Verweilen ein. Graffitti bringt Farbe ins Leben und auf steingraue Betonwände. Gemeinschaftsräume werden geschaffen in Kirchengemeinden, Schulen, Sportler-oder Feuerwehrheimen, damit die Begegnung aufblühen darf und nicht Zäune jegliche Kommunikation abwürgen.

Doch schnell gerät dieses Engagement immer wieder ans Ende, wenn die ersten Dublin-Bescheide hereinflattern: zurück nach Ungarn, Italien, nach Bulgarien oder gar in ein Land, wo die Abschiebung bereits beschlossen war, wie für Afghanen in Schweden oder Norwegen. In vielen Fällen sind es besonders vulnerable Personen unter den Flüchtlingen, die es doppelt hart trifft. Die krebskranke Iranerin, die nach Italien zurück soll, ohne den Ehemann, den das Bundesamt gar nicht auf der Reihe hat oder die alleinerziehende Mutter, deren behindertes Kind ohne Hilfe bleiben wird.

Ehrenamtliche verzweifeln dann und ziehen sich manchmal enttäuscht zurück, erhalten sie keine Unterstützung. So geschehen in vielen Kirchengemeinden, denen von den örtlichen Behördenvertretern zwar für die ehrenamtlich aktive Mitarbeit an einer gesellschaftlich zu leistenden Aufgabe gedankt wurde, die gleichzeitig aber aufgefordert wurden, unterstützend an den innereuropäischen Rückschiebungen mitzuwirken, um wie es scheinheilig hieß – die betroffenen Menschen nicht zu sehr zu belasten.

In solchen Fällen werden an einigen Orten Kirchenasyle ausgerufen. Gute Orte, sichere Orte, Orte, wo die Haltung den Halt widerspiegelt: Einsatz für die Menschenwürde und die Menschenrechte. Gerade wenn es sich um besonders verwundbare , wie z.B. traumatisierte Menschen handelt und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weder Atteste zur Kenntnis nimmt, noch dass die Zurückgeschobenen weder in die Erstaufnahmelager der umliegenden europäischen Staaten zurückgelangen, noch rechtliche oder medizinische Betreuung erhalten. Die Realitäten in denen von der Wirtschaftskrise gebeutelten südeuropäischen Staaten werden schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen.

Widerständig an diesen Punkten gegenzuhalten, macht Sinn. Es ist kein besserwisserisches Verhalten von durchgeknallten Christen, die undemokratisch agieren, sondern das Eintreten für die Menschenrechte und für ein Europa, das es eigentlich besser könnte und das besser wäre, wenn Menschenrechte für alle denn gelten würden.

Als Christinnen und Christen haben wir keine Antworten auf die Flüchtlingsfragen, keine Antworten wie alles besser ginge oder warum in anderen EU-Staaten die Asylstandards nicht eingehalten werden. Wir haben eine lange biblische Tradition, wir wissen um den Verlust von Heimat und den Schutz von Flüchtlingen.

Wir haben darin unseren Halt und unsere Haltung sollte klar und unmissverständlich sein – gerade in den schwierigen europäischen und innerstaatlichen Konstellationen: wir schützen Flüchtlinge, die zu uns kamen. Wir leben mit ihnen gemeinsam und nicht aneinander vorbei. Wir gehen Freundschaften ein. Nicht mit allen, das wäre naiv. Aber doch offener als es die unwirtlichen Orte des Ankommens von Asylbewerber eigentlich erlauben.

Oftmals erwächst aus der Ohnmacht, die sich im Alltag immer wieder einstellt, wird sie gemeinsam ertragen und angesprochen – Kraft.

Spiritualität – ein zutiefst strapaziertes Wort- erblüht an den Orten der Ohnmacht, wo Menschen Kerzen anzünden und beten, zusammenrücken und widerstehen, sich stärken und stärken lassen, Fehler machen dürfen und eingestehen und miteinander lachen und weinen. Ohne Macht zu sein, ohnmächtig zu sein, ist anstrengend. Aber eine Erfahrung, die das Zeichen einer neuen Glaubenskultur von Gemeinden und Gemeinschaften sein kann.

Erst dann kann man vielleicht dankbar erkennen, wieviel im Alltag gelingt. Einen starken Halt gewinnt, wer den Verlust eines Halts nicht mehr fürchten muss, weil die Ohnmacht, das Ohne-Macht-Sein, vertraut ist. Nein die Ohnmacht ist kein guter Ort zum Leben, aber wir gewinnen gute Orte im Leben, wenn wir sie denn kennen aushalten und durchstehen. Halt ein Ort zum Leben. Luther hat Gott definiert als „ das, woran du dein Herz hängst“. Paul Tillich hat daraus gemacht „Gott ist das, was die unbedingt angeht“ – ohne jede Bedingung. Halt und Haltung können wir gemeinsam einüben.

Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

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