Freddy Dutz – Leiterin des Pressereferates, Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW, Hamburg

4. Oldenburger Frauenmahl
8. November 2019, 18.00 Uhr bis 22.00 Uhr
in der St. Lamberti-Kirche, Markt 17, 26122 Oldenburg

„Wir sind viele“
Vielfalt als Herausforderung und Chance für Kirche und Gesellschaft

Tischrede von Freddy Dutz, Leiterin des Pressereferates,
Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW), Hamburg

 

Herzlich grüße ich Sie alle,
liebe Frauen!
„Wir sind viele“. Da kann man wenig dagegen sagen: Noch nie haben zur gleichen Zeit so viele Menschen auf diesem Planeten gelebt wie heute.

„Wir sind viele“, ist ein Satz, der einen mutlos machen kann. „Wie sollen wir es schaffen, dass alle gut leben können?“, ist ein Verzweiflungsruf. Dagegen ist der Satz: „Gemeinsam sind wir stark!“, ein Mutmach-Satz, den wir vielleicht alle üben müssen.

„Wir sind viele“, wirkt aber gern mal ziemlich arrogant. „Uns kann nix passieren. Wir stehen auf der richtigen Seite der Mehrheit.“ Doch was ist, wenn wir nicht die Mehrheit sind?

Was ist, wenn ich Minderheit bin? Wenn ich kleiner, älter, kränker, fremder als die Mehrheit bin? Ist es denn so wichtig, zur „Mehrheit“ zu gehören? Ist es womöglich so wichtig, dass ich mich verbiege, nur damit ich mehrheitsfähig bin?

Allerdings gibt es Einiges, was nicht mehrheitsfähig sein kann! Aber das ist ein anderes Thema.

Wie wäre es, wenn eine Minderheit nicht grundsätzlich als etwas Feindliches angesehen würde, sondern einfach als Teil der Gemeinschaft? Um sie einzuschließen ohne sie einzuvernehmen müssen Regeln zur Inklusion „erfunden“ werden, die keine „Sonderrechte“ wären, sondern „normal“.

Ein Beispiel: Alle Menschen sollen in Deutschland Deutsch sprechen, finden viele. Aber im Freistaat Sachsen sind Sorbisch und in Schleswig-Holstein Dänisch zugelassene Sprache von Sprachminderheiten. Leide ich darunter? Nee, echt nicht. Was lehrt dieses Beispiel? Dass nicht „Gleichbehandlung“ aller die Lösung sein kann.

„Wir sind viele“, ist weltweit gesehen richtig. Doch ein anderer Satz stimmt auch: In den kommenden 25 Jahren werden in Deutschland 10 Millionen mehr Menschen sterben, als geboren werden. Und unsere Einwanderungspolitik lässt nicht hoffen, dass arbeitsfähige Fachleute in diesem Zeitraum einwandern.

Was bedeutet das, wenn wir hier weniger – und das heißt auch älter werden – und anderswo immer mehr Menschen geboren werden?

Wir – und damit meine ich „die jetzt lebende Menschheit“ – müssen überlegen, wie wir uns alle auf diesem Planeten so organisieren, dass Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Teilhabe, Freiheit und Friede entstehen und bewahrt bleiben. Diese Fünf Prinzipien gelten in unserer Region, unserem Land und weltweit.

Stellen Sie sich eine Pyramide aus fünf gleichgroßen Seiten vor, die die Namen Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Teilhabe, Freiheit und Friede tragen.

Leider bleibt mir heute zu wenig Zeit, meine Gedanken auszuführen, aber ein paar Stichworte will ich liefern, die zeigen, wie diese fünf gleich-wichtigen Prinzipien – Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Teilhabe, Freiheit und Friede – austariert werden müssen: nicht gegeneinander, sondern miteinander.

Weil wir sind, wer wir sind, können von Veranstaltungen wie diesen Impulse ausgehen. Wir haben heute die Möglichkeit, daran mitzuwirken, wie unsere Gesellschaften organisiert werden können, dass gutes Leben für alle eine Chance hat.

Unter Gerechtigkeit verstehe ich Geschlechter-Gerechtigkeit, die alle Geschlechter gleich gut behandelt.

Bildungs-Gerechtigkeit, die allen Menschen an allen Orten die Schul- und Ausbildung ihrer Wahl ermöglicht. (Sie merken, hier spielt auch das Thema Geschlechter-Gerechtigkeit eine Rolle.)

Generationen-Gerechtigkeit, Klima-Gerechtigkeit und Verteil-Gerechtigkeit sind weitere Gesichtspunkte, die in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt werden müssen.

Das Zweite Prinzip ist die Nachhaltigkeit.

Wir stellen uns hier die Frage: Wie wirkt sich das, was wir tun oder nicht tun, produzieren oder nicht produzieren, konsumieren oder nicht konsumieren aus auf die Gerechtigkeit, Teilhabe, Freiheit und Friede für alle und an allen Orten? Lassen Sie mich hier nur einen Gedanken platzieren: Die Welt kann nicht „gerettet“ werden, wenn wir nur alle „richtig“ konsumieren!

Zum Dritten Prinzip, Teilhabe, ist folgendes zu sagen: Es bedeutet, dass eine Mehrheit NICHT über eine Minderheit bestimmt. Damit Minderheiten an allen Aspekten gesellschaftlichen Lebens teilnehmen können, können für die Mehrheit Unbequemlichkeiten entstehen. Und ja, auch Mehrkosten, wenn man an den Einbau von Aufzügen in Bahnhöfen denkt.

Das Vierte Prinzip, Freiheit, scheint für unsere Gesellschaft gelöst: Wir leben doch in Freiheit. Oder? Doch unsere Freiheit bedeutet Unfreiheit für andere. Zum Beispiel die Unfreiheit der Bekleidungsnäherinnen, die eingesperrt in den Fabriken für die Herstellung der meisten Bekleidungsstücke, die wir von der Stange kaufen, sorgen. Und gerne wird von Regierenden die Freiheit dann eingeschränkt, wenn es um das Fünfte Prinzip, „den Frieden“, geht: „Damit der Friede erhalten bleibt, gibt es eine nächtliche Ausgangssperre.“ Hier muss eine Gesellschaft die Frage stellen: Wer gefährdet den Frieden? Und weshalb hat der Staat nicht genügend Mittel, ihn aufrecht zu halten? Wir müssen uns fragen, welches Tun den Frieden in Gefahr bringt: Hier nur eine Erfahrung: Tragen Privatpersonen Waffe, ist der Friede in Gefahr. Und wer Frauen empfiehlt „um des lieben Friedens“ zu schweigen, ist ein Feind oder Feindin des Friedens.

Keines dieser Fünf Prinzipien kann ohne Transparenz zu Stande kommen. Wo Verdunkelung, Verschleierung, Täuschung, Betrug, Vetternwirtschaft herrschen, gibt es keine Gerechtigkeit, keine Nachhaltigkeit, keine Teilhabe, keine Freiheit und keinen Frieden.

Die Kunst und Herausforderung besteht nun darin, dass Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Teilhabe, Freiheit und Frieden nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Und zwar auf keiner Ebene. Wenn die weniger werdenden, in Deutschland lebenden, mehrheitlich älteren Menschen UND die weniger werdenden jungen Menschen in Eintracht leben wollen, dann müssen diese Prinzipien gelten. Und wenn wir planen, eine langfristige Willkommenskultur zu entwickeln, damit sich Fremde angezogen fühlen, hierher überzusiedeln, dann müssen die Fünf Prinzipien als Handlungsmaxime etabliert sein.

Es ist ja nicht so, dass das, was ich in aller Kürze vorgetragen habe, völlig neu ist und unserer Kultur widerspräche. Die Umsetzung der Fünf Prinzipien Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Teilhabe, Freiheit und Friede können als Handlungsanleitung zur Anwendung des Kategorischen Imperativ nach Kant gelten: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Oder, um es mit den Worten der Bibel zu sagen: „Du sollst lieben Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte,“ und die Fortsetzung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Und dann ist der Satz „Wir sind viele“ nichts mehr, wovor wir uns grauen müssen, oder in die innere Immigration gehen müssten. Wir schaffen das! Nicht weil wir viele sind, sondern weil jede einzelne es wollen kann.

Dazu ein Mut-mach-Gedicht von Peter Rosegger:

Ein bisschen mehr …
Ein bisschen mehr Friede / und weniger Streit, / ein bisschen mehr Güte / und weniger Neid, / ein bisschen mehr Liebe / und weniger Hass, / ein bisschen mehr Wahrheit, /das wär doch schon was.
Statt soviel Hast / ein bisschen mehr Ruh’. / Statt immer nur ich / ein bisschen mehr Du! / Statt Angst und Hemmungen / ein bisschen mehr Mut / und Kraft zum Handeln, / das wäre gut.
Kein Trübsinn und Dunkel, / mehr Freude und Licht. / Kein quälend Verlangen, / ein froher Verzicht / und viel mehr Blumen so lange es geht, / nicht erst auf Gräbern, / da blüh‘n sie zu spät!

Wem das zu flach ist: ich kann ein anderes Mutmach-Lied aus Zeiten mindestens ebenso großer Herausforderungen anbieten:
Ein‘ feste Burg ist unser Gott, / ein gute Wehr und Waffen. / Er hilft uns frei aus aller Not, / die uns jetzt hat betroffen.
Und es geht weiter:
Mit unsrer Macht ist nichts getan, / wir sind gar bald verloren; / es streit‘ für uns der rechte Mann, / den Gott hat selbst erkoren.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen Mut, Fröhlichkeit, Kreativität, Klugheit, Wissen und Gottvertrauen bei den vor uns allen liegenden Herausforderungen.

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