Iman Andrea Reimann – Vorsitzende des Deutschen Muslimischen zentrums Berlin e.V.

„Frauen reden zu Tisch“. 30. Oktober 2019 „Ungleiche Schwestern“ 30 Jahre friedliche Revolution und 70 Jahre Grundgesetz“
Tischrede Frauenmahl Berlin 2019: Ungleiche Schwestern – 30 Jahre friedliche Revolution und 70 Jahre Grundgesetz

Iman Andrea Reimann, Vorsitzende des Deutschen Muslimischen Zentrums Berlin e.V.:
Tischrede: Gleichberechtigung. Verabredetes Zusammenleben in Deutschland

Liebe Frauen,
ich grüße Sie herzlich und freue mich heute zu Ihnen, sprechen zu dürfen.

Seit 2011 bin ich im Vorstand des Deutschen Muslimischen Zentrums und seit 2012 die Vorsitzende. Engagiert und Verantwortungsträgerin in verschiedenen Funktionen bin ich seit 1996 im DMZ.

Das Deutsche Muslimische Zentrum Berlin, ehem. Deutschsprachiger Muslimkreis Berlin besteht seit 30 Jahren. Die Gemeinde ist multinational aufgestellt. In den letzten 15 Jahren gab es einen deutlichen Zuwachs von Frauen. Der Vorstand besteht derzeit aus 5 Frauen. Das DMZ versteht sich als Bildungs-und Begegnungszentrum, hierzu zählen Angebote und Kurse für Muslime (jung und alt), Veranstaltungen zum Ramadan oder Id-Gebete (mit 1.000 Teilnehmer*innen) und Veranstaltungen wie Interkulturelle Tage, Wochen gegen Rassismus, Interreligiöser Frauentag, DMZ-Gespräche oder ganz spezielle Events wie den Jüdisch-Muslimischen Salon.

Eines der größten Projekte ist das Drei-Religionen-Kita-Haus, mit einem jüdischen, muslimischen und christlichen Träger unter einem Dach.

Durch dieses Vorhaben ist mir deutlich geworden: um Träume Wirklichkeit werden zu lassen, benötigen wir einen langen Atem und Geduld.

Die Robert-Bosch-Stiftung fördert seit März 2019 unser Projekt „Fit fürs Ehrenamt – muslimische Frauen engagieren sich“. In 8 Workshops beschäftigten sich die Teilnehmerinnen, u.a. mit Projekt-, Zeit-, Konfliktmanagement, Kommunikationstechniken, Islamischer „Feminismus“, Öffentlichkeitsarbeit und Community Organizing. Zur weiteren Qualifizierung gehört eine Hospitation in einem anderen Verein oder Organisation, die Erstellung einer Broschüre zum Ehrenamt und die Planung und Durchführung einer Veranstaltung.

In diesem Projekt erhalten Frauen teilweise zum ersten Mal in ihrem Leben die Chance, sich als Frauen mit eigenen Interessen wahrzunehmen. Zum Anderen ist es immer wieder berührend, was diese Frauen trotz einiger Härten des Lebens leisten und wie sie ihre Ziele verfolgen.

Soviel zu meinem ehrenamtlichen Hintergrund.

Meine Großmutter mütterlicherseits war eine energische humorvolle Frau, noch in der Kaiserzeit geboren, durchlebte sie zwei Diktaturen bis sie ihre Freiheit in West-Berlin
ausleben konnte ohne die Zwänge, die sich durch Familienleben, Beruf und sozial-politische Bedingungen ergaben.

Meine Mutter ist eine reelle lebensfrohe Frau, die sich nicht hat unterkriegen lassen als alleinerziehende Mutter und auf 47 Jahre Berufstätigkeit zurück blicken kann.

Zwei Frauen, die mich geprägt haben. Deren Zitate (für’s Leben) mich von frühester Kindheit begleitet und geleitet haben.

Durch ihre Art zu leben und auf Menschen zu zugehen, lernte ich viel für mein Leben.
Eines davon ist die Offenheit, mit Menschen in Begegnung zu treten, selbst wenn sie nicht unter dem gewöhnlichen Radar der Personen zählen, mit denen ich zu tun habe.
Diese Offenheit brauchte ich oft. Seit meiner Kindheit überschreite ich Grenzen, gewollt oder ungewollt.

Als Grenzgängerin stand und stehe ich vor der Herausforderung einen Platz angeboten zu bekommen bzw. ihn einnehmen zu können.

Die Überschrift zu meiner Rede lautet „Gleichberechtigung. Verabredetes Zusammenleben in Deutschland“.

Es gibt in unserem Land keinen Kaiser mehr, keinen Diktator und keine/n dominierende/n Kanzler*in, die den Bürgern Deutschlands auferlegen, wie sie zu leben haben. Dafür können wir dankbar sein.

Doch die gesellschaftlich festgelegten Werte, Rechte & Pflichten, Regeln und Grundgesetze erfordern einen stetigen persönlichen Einsatz in der Umsetzung, auf mehreren Ebenen: familiär, beruflich, gesellschaftlich, politisch.

Derzeit scheint es Menschen in Deutschland zu geben, die sich eine Konformität herbei sehnen, ein Korsett, welches das Leben klar eingrenzt und von anderen abgrenzt.
Daraus ergibt sich die Frage nach Ambiguität. Stellt es einen persönlichen und gesellschaftlichen Mehrwert dar, wenn es Mehrdeutigkeiten gibt?

Wie verhält es sich mit der Vielfältigkeit von Lebens-und Ernährungsformen, Ansichten oder Religionsgemeinschaften?

Der Soziologe Zygmunt Baumann schreibt, Ambiguität erscheine inzwischen „als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen“.1

Wir Menschen meiden eher die mehrdeutigen, widersprüchlichen Situationen. Wir sind eher ambiguitätsintolerant. Uns fällt es schwer Vieldeutigkeit zu leben und zu ertragen, daher streben wir die Eindeutigkeit an.

Das führt u.a. dazu, eher nur die Menschen im Blick zu haben, die einem ähnlich sind. Mit denen man aufgewachsen ist, die im selben Berufsfeld arbeiten, dem eigenen Hobby nachgehen, dieselbe politische Meinung teilen, usw.

Berlin hat ca. 3.723.914 Einwohner. (Stand Oktober 2018)
Ohne die starke Zuwanderung und den Geburtenüberschuss der Zuwanderer wäre Berlin eine schrumpfende Stadt. Der Anteil der Bevölkerung mit fremdem Pass stieg Ende 2018 auf 18,5 Prozent. Die Einwohner Berlins kommen aus 193 Nationen. Die Zahl der deutschen Einwohner veränderte sich seit längerem kaum und lag bei knapp drei Millionen. (Tagesspiegel und Morgenpost)

Wen lassen wir an den „Runden Tisch“ zum Gespräch auf Augenhöhe?

Im Grundgesetz steht „die Würde des Menschen ist unantastbar“. Daraus verstehe ich, jede/r ist aufgrund seines/ihres Menschsein gleichberechtigt. Dazu bedarf es keiner Zugehörigkeit zu einer Staatsbürgerschaft. Dies wird durch den Artikel 3 gestützt, wo klar benannt ist: alle Menschen sind gleichberechtigt. Dass niemand benachteiligt werden darf.

In weiteren Artikeln des Grundgesetzes wird der Weg zur Gleichberechtigung aller in Deutschland lebender Menschen geebnet.

Wer schon einmal in einer WG gelebt hat, weiß wie es nach der Euphorie ein Zimmer zu haben, weiterging – es folgte Ernüchterung. Entweder hat man die nervigen Dinge in der WG geschluckt oder bat um eine Aussprache.

Als WG-Erprobte kann ich sagen, dass sich Absprachen zum Zusammenleben gelohnt haben und es sich mit einigen Macken der Mitbewohner*innen aushalten ließ.
Überschaubares verabredetes Zusammenleben.

Seit über 8 Jahren wirke ich in den Berliner Bürgerplattformen mit. Einem Zusammenschluss verschiedener Gruppen (Sozial, Religiös, Nachbarschaftlich), die sich trotz ihrer Unterschiedlichkeiten zusammengetan haben, um Gesellschaft mitzugestalten.

Jede Frau, jeder Mann in dieser Stadt ist mit politischen Themen konfrontiert, hat persönliche Probleme und Wünsche und stellt Fragen an die Zukunft.

Menschen einen Raum, eine Möglichkeit zu geben, sich mit ihren Themen an Politiker zu wenden, bei denen sie nie einen Termin bekommen würden, ist eine der Aufgaben des Community Organizing.

Was jedoch als Arbeit vor den Aktionen steht, ist die Investition in Beziehungen! Beziehungsaufbau ist die Grundlage der Bürgerplattformen. Sich zu kennen und einander vertrauen zu können, stärkt den Einzelnen und die Gruppen.

Menschen, die einander nicht begegnen wollten oder nichts voneinander wussten, überschritten Grenzen. Was dazu führte, dass die Grenzen durchlässiger wurden, verschwanden.

Die Berliner Bürgerplattformen haben einiges zu bieten:
– Sehr unterschiedliche Menschen und Gruppen zusammenzubringen, die um die gemeinsamen Sorgen und Interessen wissen.
– Die Plattformen sind an der Basis. Sie kennen die persönlichen Geschichten der Gruppenmitglieder.
– Die Mitglieder entwickeln gemeinsam realistische Lösungsvorschläge.
– Die Bürgerplattformen können auf alle Akteure zugehen ohne ideologische Begrenzungen und hierarchische Ebenen einhalten zu müssen.

Verabredetes Zusammenleben erfordert den Mut, auf eine Unbekannte zu zugehen. Sich nicht die eigenen Vorurteile nicht bestätigen zu lassen. Dem Gegenüber Vertrauensvorschuss zu geben und eine aufrichtige Begleiterin für andere zu sein.
Wieso frage ich Hatice zuerst nach ihrem Kopftuch oder vermute, dass die Roma-Frau von ihrem Ehemann geschlagen wird, anstatt sie zu fragen, ob sie auch die bunten Herbstblätter schön findet oder was sie zum BER zu sagen hat?

Die politische und gesellschaftliche Lage, und damit meine ich nicht nur die Rechten, machen mir Sorgen. Wohin werden wir uns entwickeln?

Mely Kiyak schrieb, „Das reaktionäre Moment unserer Gegenwart ist eine Antwort auf die Emanzipationserfolge der Minderheiten. … Sobald eine Minderheit ein paar Rechte erlangt hat, folgt ein Backlash. Wenn dem so ist, könnte man sich vielleicht zur Abwechslung mal darauf vorbereiten. Solange es Ausbeutung und soziale Unterschiede gibt, werden die Unterdrückten sich nämlich auflehnen.“2

Je mehr Kinder und Enkelkinder von ehemaligen Gastarbeiter*innen (Putzfrauen und Fabrikarbeitern) einen akademischen Abschluss erreichen und in bedeutende Positionen kommen, desto mehr sind Menschen mit Angst vor Ambiguität und Rassisten bereit dagegen anzugehen und Widerstand zu leisten.

Die Schaffung von einem Zusammenleben auf Augenhöhe und Chancen für alle ist eine sichere Investition in die Vielfalt Berlins.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

1 S.15 „Die Vereindeutigung der Welt“, Thomas Bauer
2 S.34, 35 „Haltung“, Mely Kiyak

Frauenmahl Logo