Ines Pohl – Chefredakteurinn der taz

Marburg, 30.10.2011

Wie werden wir uns wohl an dieses Jahr erinnern?

Das Jahr, in dem in Japan tausende von Menschen in den
Tod gespült wurden und der Tsunami die Atommeiler in Fukushima schwerst
beschädigt hat. Die Angst vor einem zweiten Tschernobyl machte den Ausstieg vom
Ausstieg aus dem Atomausstieg in Deutschland möglich. Wir lernten neue Vokabeln
wie Haircut und Eurobonds, gefühlt füllen mehrmals stündlich die Finanz- und
Wirtschafts-, die Schulden- und Staatenkrise die Schlagzeilen. Die
Occupy-Wallstreet-Bewegung als Aufstand der Mehrheit, die für eine kleine Elite
glaubt bluten zu müssen, fand ihren Weg über den Großen Teich auch in unsere
Bankenviertel.

Überhaupt ist dieses Jahr ein Jahr des Aufbegehrens.
BürgerInnen formieren sich, Worte wie Wutbürger schwappen aus dem Süden in den
Rest der Republik.

Es ist zweifelsohne das Jahr der Revolutionen. Wie
friedlich all der Aufstand, der als Arabischer Frühling so hoffnungsfroh
begann, am Ende wirklich sein wird, vermag zum jetzigen Zeitpunkt allerdings
niemand zu sagen. Die knappen Informationen, die wir in diesen Tagen aus
Ländern wie Syrien und Libyen erhalten, lassen wenig Gutes ahnen. Das Morden
hat offensichtlich auch nachdem die Despoten vom Thron gestoßen worden waren,
noch lange kein Ende genommen.

Das Jahr 2011 wird auch als das Jahr in die Geschichtsbücher
eingehen, in dem es offensichtlich hoffähig wurde, das zielgenaue Töten von
Diktatoren mehrheitlich zu beklatschenund sogar Friedensnobelpreisträger wie Barack Obama das gut finden und
offensichtlich auch kein Problem damit haben, wenn Menschen im Sterben gefilmt
und Gaddafi als blutiges Zeitdokumente in Endlosschleifen über die Bildschirme
flattert.

Haben Vertreterinnen oder Vertreter christlicher Kirchen
sich dazu geäußert? Haben sie öffentlich reflektiert, wie sich all das verhält
zur Würde des Menschen? Und wie es sein kann, dass ausgerechnet die Politiker,
die beim Regieren so gerne die Hände falten und sich in gute Christentradition
stellen, sich nach eigenem Bekunden darüber „freuen“, wenn ein Mensch getötet
wird?

Sie verzeihen, wenn ich die strikte Chronologie verlasse
und etwas hin und her springe auf der Zeitschiene, aber so sind wir
Medienleute.

Denn ein Ereignis muss ich natürlich unbedingt erwähnen:
Der Heilige Vater kam nach Deutschland. Da ich in Kreuzberg wohne, übernachtete
er während seines Aufenthaltes in Berlin ganz in meiner Nähe. Wenn er da nicht
ganz so gut schlief, lag das hoffentlich auch daran, dass ich gemeinsam mit
einigen anderen hundert schwulen und lesbischen und solidarischen BerlinerInnen
eine ordentlich laute Party feierte, um lustvoll dagegen zu protestieren, dass
das Oberhaupt der katholischen Kirche zwar in unserem Bundestag sprechen darf,
wir aber nach seiner Theologie in unserer sexuellen Orientierung ein
permanenter Sündenfall sind.

Für eine wie mich, für eine Journalistin, die Nachrichten
bewertet, sortiert, aufbereitet, hinterfragt und schließlich publiziert, ist es
schon bemerkenswert, wann Kirche, wann Religion in den Medien behandelt wird
und wann Kirche und ihre VertreterInnen sich wie und womit in den Diskurs
einbringen.

Klar, die Kirchentage. Wenn die bunten Schals wehen und
mit gewichtiger Polit-Prominenz gesungen, geklatscht und gebetet wird, ist
Kirche sehr sichtbar. Damit werden wir uns während dieses Frauenmahls
beschäftigen.

Aber sonst?

Ist es nicht verstörend, dass in einer Zeit wie dieser,
in der die Welt sich in manchen Teilen auf den Kopf stellt, in anderen
Bereichen die Ausbeutung, das Morden, die sexuelle Diskriminierung, die
Unterdrückung vor unser aller Augen einfach weiter geht, die Klimaveränderung,
die Naturzerstörungen ungebremst ihren Lauf nehmen, dass in einer Zeit wie
dieser, von Kirche so wenig zu hören ist?

Wie also definiert diese Religionsgemeinschaft, die sich
ja der Nächstenliebe verpflichtet, ihre Aufgabe, wenn weite Teile immer noch
schweigen zu der jahrelangen sexuellen Gewalt, die Priester in kirchlichen
Räumen Schutzbefohlenen antaten?

Kirche ist ein Ort der Selbsvergewisserung von Gläubigen,
ein Ort, in dem ihre Mitglieder Kraft finden, Trost in den schwierigen Momenten
des Lebens, Mut schöpfen können in den dunklen Stunden von Abschied und Trauer.

Aber will Kirche, wollen Christinnen und Christen eine
gestaltende Kraft sein im gesamtgesellschaftlichen Diskurs, müssen die
Institutionen und ihre Vertreterinnen glaubwürdig sein. Und das sind sie nur,
wenn sie sich an dem was sie predigen, auch selbst orientieren. Dazu gehören
gelebte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern genauso wie die Inklusion
von Menschen, die vielleicht nicht in allen Bereichen der Norm entsprechen.
Dazu gehört auch, sich den Unzulänglichkeiten der eigenen Institutionen zu
bekennen und eben Fälle von sexuellem Missbrauch nicht nur aufzuklären, sondern
auch Verantwortung dafür zu übernehmen.

Nicht, dass ich missverstanden werde, ich weiß, wie engagiert
sich in zahllosen Dörfern und Städten Gemeindeglieder sich für das
Allgemeinwohl einsetzen, auch für Kinder und Jugendliche, die keiner oder einer
anderen Religionsgemeinschaft angehören. Ich bin selbst in einer Familie groß
geworden, in der der sonntägliche Kirchgang genau so selbstverständlich war wie
der Kollege meines Vaters aus der Türkei am Kaffeetisch, dem meine Eltern dabei
halfen, Anträge auszufüllen.

Was heißt das?

Es ist eine Aufforderung, mutiger zu sein, aufzubegehren,
sich zu wehren, sich als Christinnen und Christen zu organisieren und gemeinsam
dagegen an zu kämpfen, dass in Deutschland die Herkunft eines Kindes immer
wichtiger wird im Bezug auf dessen Zukunftschancen. Da waren wir schon einmal
weiter. Und es muss uns alle beschämen, dass die Hartz-4-Fallen für immer mehr
Menschen für alle Zeiten zugeschnappt scheinen.

Christsein muss auch heißen, laut zu werden. Christ sein
muss auch heißen aufzustehen und Nein zu sagen. Zu Kriegen, ja, aber auch zur
Diskriminierung und brüllenden Ungerechtigkeit im eigenen Land. Ich wünsche
mir, dass Christen, die zum Beispiel als Politiker Verantwortung übernehmen,
sich weniger mit der Bedrohung des christlichen Abendlandes von außen zu
beschäftigen. Sondern vielmehr zu erkennen, dass das Gebot der Nächstenliebe
durch die Organisation unseres eigenen Staates immer massiver in Gefahr gerät.
Diesen Kampf sollten die Kirchen ausrufen, und nicht den der Kulturen.

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