Jasmina Hosterts Tischrede beim 2. Böblinger Frauenmahl am 24. Oktober 2015 in der Festen Burg
Sehr geehrte Damen,
liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Frau Feine,
sehr gerne bin ich ihrer Einladung zum zweiten Böblinger Frauenmal gefolgt. Und ich muss ihnen ganz ehrlich zugestehen, dass ich die Idee eines Frauenmals, wo nur wir Frauen unter uns sind, ganz großartig finde. Und ich halte es für sehr wichtig, dass gerade Frauen sich untereinander vernetzen, austauschen und stärken. Das sind die besten Gelegenheiten wo wir so sein können wie wir sind, wo sich Kräfte bündeln und wo wir merken, wie stark und toll wir Frauen doch sind. Vor diesem Hintergrund freue ich mich wirklich sehr heute hier sein zu dürfen und mich mit so vielen Frauen austauschen zu können.
Und nun zum eigentlichen Thema – Heimat:
Bei dem Gedanken Heimat da wird es mir ganz warm ums Herz. Es sind bestimmte Bilder, bestimmte Erinnerungen aus der Kindheit, Familie, Freunde, Orte und Situationen. Es sind auch bestimmte Gerüche, wie brennendes Holz im Winter, die mich an meine Heimatstadt Sarajevo erinnern. Bis zu meinem 9. Lebensjahr habe ich in Sarajevo, in Bosnien-Herzegowina meine Kindheit verbracht. Ich war neun Jahre alt als der Krieg in Bosnien und Herzegowina ausbrach. Von heute auf morgen wurde meiner behüteten Kindheit ein Ende gesetzt. Meine Heimat wurde nach und nach zerstört. Zuerst wurden die Schulen geschlossen, kurz darauf durften wir Kinder nicht mehr das Haus verlassen und auch nicht mehr unsere Familie in den anderen Stadtteilen besuchen. Meine Heimatstadt Sarajevo wurde von Truppen umzingelt und belagert. Elektrizität und Wasser wurden rar, und es gab auch immer weniger zu essen. Bomben und Granaten fielen, Schafschützen nehmen ihre Stellung in den Hochhäusern ein und schossen auf die Zivilbevölkerung. Eines Tages überlebte ich sehr knapp. Eine Granate schlug in unseren Hof als ich draußen vor dem Haus war. Mein rechter Arm wurde so stark verletzt, dass die Ärzte ihn im Krankenhaus amputieren mussten. Trotz mehrerer Operation konnte die Entzündung an der Verletzung nicht behoben werden. Deutsche Ärzte von der Organisation Cap Anamur rieten uns zu einer Weiterbehandlung nach Deutschland zu fliehen. Da die Flieger bereits voll waren, mussten wir unsere Flucht selbst organisieren. Ein Schleuser brauchte mich und meinen Vater in einer gefährlichen Nacht und Nebel Aktion aus der umzingelten Stadt heraus. Über Kroatien und Slowenien kamen wir im April 1993 in Bonn in Deutschland an.
Ich kann mich heute noch an diesen Moment erinnern, als wir am Bonner Hauptbahnhof standen, in einer unbekannten Stadt, fremden Gesellschaft, fremden Sprache, von der ich nicht mal ein Wort kannte, und darauf warteten, dass uns eine unbekannte Person abholt. Doch dort war Frieden und das tat gut.
Ich habe mir gewünscht, dass dieser Deutschland-Aufenthalt ein kurzer sein wird und wir schnell wieder in unsere Heimatstadt Sarajevo zurückkehren können. Der gravierende Armverlust war für mich nicht so schlimm wie das Gefühl meine Heimat verloren und verlassen zu haben. Und ich weiß, damals wurde mir ganz kalt ums Herz wenn ich an meine Heimat gedacht habe. Das Gefühl in der Fremde zu sein, und das war Deutschland bei meiner Ankunft in der Tat, war wie ein Gefühl der Ohnmacht, ich wusste gar nicht was um mich geschieht.
Der Krieg hörte nicht auf. Mein Vater und ich blieben.
Ich kam in die Grundschule, dann aufs Gymnasium, sog die deutsche Sprache wie ein Schwamm auf, fand neue Freunde, und das Fremde wurde nach und nach etwas Vertrautes. Ich wollte nicht mehr weg, ich wollte bleiben. Deutschland ist seit gut 20 Jahren meine Heimat. Es fühlt sich an, als hätte ich niemals woanders gelebt.
Ich bin in Bonn zur Schule gegangen und habe dort studiert. Das Rheinland war lange Zeit meine Heimat, und wird es immer bleiben. Genauso wie Bosnien und Herzegowina immer meine Heimat sein wird. Vor knapp 5 Jahren bin ich nach Böblingen gezogen. Ich habe mich hier sehr gut eingelebt und integriert, fühle mich wohl und möchte hier nicht weg. Es ist eine neu dazugewonnene Heimat. Es sind neue Menschen, neue Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Ich arbeite hier, meine Tochter Ella ist hier geboren, sie geht hier in die Kita und spricht schwäbisch.
Aus Fremde ist Heimat geworden. Und dies natürlich nicht von heute auf morgen, sondern mit der Zeit. Ich habe die Sprache gelernt, ich habe Freunde gefunden, und bin meinem Weg in der neuen Gesellschaft gegangen, denn die Gesellschaft hat mir ermöglicht, dass ich mich entwickeln und entfalten kann. Ich habe Chancen wahrgenommen, ich bin an den Erfahrungen gewachsen, die ich machen durfte. Mit der Zeit bin ich ein Teil der neuen Gesellschaft geworden, ohne es bewusst zu merken, ohne mich selbst dazu gezwungen zu haben. Meine neue Heimat und ich haben einfach zueinander gefunden.
Ein Zitat von Cicero hat mich sehr geprägt: „Ubi bene, ibi patria.“ „Wo es mir gut geht, dort ist meine Heimat.“ Hier geht es mir gut und ich fühle mich hier wohl. Und dieses Gefühl ist für mich und ich denke für viele Menschen ganz wichtig um sich heimisch fühlen zu können.
Wo ist nun meine Heimat? In der Pubertät hat mich diese Frage stark beschäftigt, und ich glaubte, ich müsse mich endlich mal entscheiden, für welche Heimat mein Herz höher schlägt. Ich konnte mich nicht entscheiden, sondern habe schließlich erkannt: Ein Mensch darf mehrere Heimaten haben. Und dies sehe ich als eine Bereicherung. Und ich bin überzeugt, es muss im Leben kein „entweder oder“ geben, sondern es darf ruhig ein „sowohl-als auch“ sein.
Die heutige Flüchtlingssituation erinnert mich an meine eigene Situation in den 90er Jahren. Viele Menschen, Flüchtlinge, kommen zu uns, und viele werden, wie ich, in Deutschland bleiben. Ich wünsche mir auch für sie, dass die Fremde Heimat wird, ohne dass sie ihre Wurzel und Herkunft verneinen müssen. Ich wünsche mir, dass sie ihren eigenen Weg in unserer Gesellschaft gehen können, ihren Platz in unserer Gesellschaft finden und sich wohl und vertraut fühlen. Denn nur dort wo es uns gut geht, kann aus Fremde Heimat werden.
Die Kirche spielt gerade in der Flüchtlingspolitik eine wesentliche Rolle. Wir sollten nicht vergessen, dass es die Kirche war, die prompt schnell und zügig reagiert hat und den Flüchtlingen zur Seite gestanden ist und dies heute noch vorbildlich tut. Es waren Menschen aus der Kirchenarbeit die die Arbeitskreise und Flüchtlingsinitiativen gegründet haben und Menschen, die bei uns Schutz suchen, geholfen haben, ob bei Wohnungssuche, Behördengängen, Familienzuführung, Sprache, Schule und Integration. Es sind die Kirchen, die uns immer wieder darauf aufmerksam machen, dass hinter den Flüchtlingszahlen Menschen mit ihren Schicksalen stehen und dass wir vom Menschen her denken und menschlich handeln müssen. Ich wünsche mir, dass die Kirche weiterhin kraftvoll diese Aussage nach außen trägt. Denn nur wenn wir menschlich denken, Vorurteilen und Rassismus keine Chance geben, können wir eine Spaltung unserer Gesellschaft vermeiden und für ein friedliches Miteinander sorgen.