Kiel, 30.10.2012
Liebe Schwestern!
Klimawandel: In der Wüste essen lernen
Im Mai auf einer Konfirmandenfreizeit fragte mich eine
Konfirmandin am Ende des Mittagessens: Warum machen
Sie eigentlich Ihren Teller so sauber? Sie fragte ganz
neugierig, ganz interessiert. Sie hatte ein Phänomen
bemerkt, das sie nicht verstand. Ich sah ihre freundlichen,
fragenden Augen und dann fiel die Antwort einfach aus
mir heraus: Du, ich habe als Kind gelernt, du sollst dich
nach dem Essen in deinem Teller spiegeln können. Ich
sprach diesen Satz aus- und fühlte mich dabei plötzlich ihr
gegenüber uralt. Ich sah das junge Mädchen, das die
Erklärung reglos hörte, sich dann abwandte. Sie hatte eine
Antwort bekommen. Eine seltsame wahrscheinlich. Und ich
blieb seltsam angefasst an meinem Platz und hatte die
Menschen vor Augen, die mir beigebracht hatten, den
Teller nicht nur leer zu essen, sondern wirklich sauber zu
machen. Und auf einmal war mir, als hätte ich selbst die
kalten Nachkriegswinter in den Knochen. Die Winter, die
ich mitunter geradezu zu spüren meine, wenn unsere
Senioren zum Kaffeetrinken in diesen Saal treten, nein
stürmen. Und wir können gar nicht so schnell gucken, dann
sind die ersten Kuchen bereits auf den Tellern und dann
auch richtig schnell verspeist. Obwohl es meist reichlich
gibt, liegt das Gefühl in der Luft, es könnte nicht reichen.
Ich rede hier jetzt zwar von Mettenhof, aber mir scheint,
das was sich hier in diesem Raum abspielt, können wir
überall in unserem Land erleben in der Generation der
Kriegskinder. Es ist, als hätten sich die kalten
Nachkriegswinter in den Knochen, in den Leibern der
Menschen tief festgesetzt, die damals, 45, 1946,47,48
Kinder waren. Die Dürftigkeit, die Not, die damals
herrschte, kommt immer und immer wieder zur Sprache.
Werden die Erfahrungen aus der Kindheit, die
Essensmuster, die sich damals eingeschliffen haben in die
hungrigen Körper und Seelen, im Alter wieder aktiviert,
wenn die eigenen vitalen Kräfte nachlassen? Es sind nicht
die heißen Kriegssommer, sondern die kalten
Nachkriegswinter mit ihrem Elend, die die Essensmuster
einer Generation nachhaltig geprägt zu haben scheinen,
nachhaltig eben auch darin, dass auch ich, die 1956
Geborene, von diesen Kriegskindern noch gelernt habe: Du
sollst dich nach dem Essen in deinem Teller spiegeln
können. Klima und Ernährung: So aktuell wie dieses Thema
heute ist, neu ist es nicht. Aber spannend nachzuforschen,
was denn klimatische Bedingungen die Essensmuster von
Generationen miteinander zu tun haben. Ein Beispiel aus
der Bibel, das bis in unsere Zeit hinein wirksam ist:
Das Volk Israel hat nicht Kriegswinter durchlebt, aber 40
Jahre Wüstenzeit: Wir denken an Hitze, es wird auch die
ganz kalten Zeiten, vor allem Nächte gegeben haben.
Ausgerechnet in dieser lebensfeindlichen Klimazone – nicht
am fruchtbaren Nil in Ägypten, nicht in neu eröffneten
Shopping- Malls, nicht einmal in einem Auffanglager für
Flüchtlinge- nein, in der Wüste lernt eine Generation von
Flüchtlingen, die gerade der Sklaverei entkommen ist, das
freiheitliche Leben. Und es beginnt mit dem Essen lernen
und eben in der Wüste. Die Sklavenerfahrung, die ihnen in
den Körpern und Herzen steckt ist die, dass es Essen im
Überfluss gibt in der ägyptischen Gesellschaft und dass in
diesem Überfluss die Masse der Armen verhungert und die
Reichen an Wohlstandskrankheiten leiden. Gott nennt das
die „Krankheiten der Ägypter“. Wir kennen diese
Krankheiten in unserer Welt sehr genau.
Aus diesem reichen Ägypten sind die Israeliten geflohen.
Kaum haben sie die Wüste erreicht, schreien sie: wir
werden verhungern!
Sie erinnern sicherlich, was nun geschieht: Gott lässt Brot
vom Himmel regnen, Manna. Das ist kein Mirakel. Manna,
dieses etwas, ist ein nahrhaftes Produkt, das in der Wüste
zu finden ist. Genau genommen ist es ein Sekret, das die
Schildlaus aus dem Saft der Tamariske ausscheidet. Mit
diesem Manna lernen die Menschen in der Wüste das
Essen neu , mit lausigem Brot also: Sie lernen, dass Gottes
Schöpfung sie ernährt, und zwar von Tag zu Tag. Sie
sammeln es am Morgen, wenn es mit dem Morgentau auf
der Erde liegt. Sie sammeln familienweise. Sie machen die
Erfahrung, dass sie viel sammeln können oder wenig: Jede
Familie hat schließlich immer gerade so viel, wie sie zum
Essen braucht. Nicht mehr, nicht weniger. Was sie darüber
behalten haben, um es zu horten, fängt am nächsten Tag
an zu stinken. Sie sammeln am 6. Tag die doppelte Menge
Manna und am 7. Tag, dem Sabbat, finden sie nichts. Dafür
stinkt die Mannaportion vom Vortag am Sabbatmorgen
nicht. Sie können erleben, dass sie am 7. Tag volle Genüge
haben, obwohl sie an diesem Tag nichts finden, nichts
sammeln können. Der Sabbat, dieser siebte Tag der Woche,
wird ohne Erklärungen, einfach durch die wöchentliche
Erfahrung, dass nichts vom Himmel fällt, zum tragenden
Rhythmus in dieser Wüstenzeit.
Wie intensiv nimm t man in Wüstennächten die Gestirne
wahr, an denen man Tag und Nacht, Monat und Jahr
ablesen kann. Aber den Siebener- Rhythmus geben die
Gestirne nicht her. Die Woche, die uns so vertraut ist, ist
aus dem Lauf der Gestirne nicht ableitbar. Sie ist abstrakt.
Uns erscheint die Sieben- Tage- Woche fast naturgegeben,
aber das gerade ist sie nicht. Sie ist uns durch die biblische
Tradition eingeschärft, sie ist ein Lebens- und
Essensmuster, das von Generation zu Generation
weitergegeben wurde, und sie ist in unserer Zeit
wohlmöglich dabei zu verdunsten in der Gleichförmigkeit,
die die Ladenöffnungszeiten und unsere Lebensweise über
alle Tage verhängen. Das schafft in unserem Land
inzwischen ein anderes Klima in jeder denkbaren Hinsicht.
Was hat Essenlernen mit dem Sabbat zu tun?
Ich schlage eine Deutung vor: Ein neugeborenes Kind
erlebt Hunger und Gestillt-Sein, Spannung und
Entspannung durch die Fürsorge der Mutter, die durch ihre
Weise zu stillen dem Kind einen Rhythmus erfahrbar
macht. Wenn die Mutter auf das Kind achtet, ihm nicht
einen Schnuller in den Mund steckt, wenn es keinen
braucht, ihm nicht die Brust gibt, wenn es noch dabei ist
herauszufinden, was es will, wenn das Kind mit seinem
Hunger in Berührung kommt, wenn es ihn fühlt und dann
erlebt, es wird gestillt, dann entsteht ein Rhythmus des
Lebens, der zugleich die Identität von Mutter und Kind
reifen lässt. Die Israeliten werden durch das Essen in der
Wüste im Laufe einer Generation zu Menschen mit
Identität, die der Freiheit standhalten können. Gott ist die
mütterlich nährende Quelle. Manna fällt vom Himmel, ist
zur Genüge da wie Muttermilch. Sechs Tage lang jeden Tag
neu. „Aber am 7. Tag gingen etliche vom Volk hinaus, um
zu sammeln und fanden nichts.“ Es ist, als wäre der Sabbat
der Wüstentag schlechthin: und fanden „nichts“. Das ist
Wüste. Das ist Frustration. „Nichts“. Sind die sechs
anderen Tage gefüllt mit dem Sammeln und Verarbeiten
des Manna, sind die Menschen versorgt durch das
Himmelsbrot, wie ein Kind, dem die Mutter regelmäßig
und zur Genüge die Brust reicht, so ist der siebte Tag die
Herausforderung, sich dem „Nichts der Wüste“ zu stellen in
kleinen Tagesdosen, und dabei das Vertrauen zu lernen:
Das Manna vom Vortag wird reichen. Statt an der
mütterlichen Brust Gottes zu saugen wie an allen anderen
Tagen, stehen die Menschen am Sabbat Gott gegenüber:
empfangend zwar, aber getrennt von ihm, als sein/ als ihr
Gegenüber, gottebenbildlich darin, dass sie ausruhen und
feiern. Wir hören, dass die Israeliten dennoch immer
wieder murren in diesen Jahren in der Wüste. Die Angst, zu
verhungern, bricht sich wiederholt Bahn. Das Manna macht
die Wüste nicht zum Schlaraffenland. Aber es ist dieser
Rhythmus, der sie zusammenhält und rettet. Weil die
Israeliten den Sabbat hüteten, hat der Sabbat sie behütet,
so sagt und singt es die jüdische Tradition bis heute. Durch
diesen 7. Tag hat das Volk 40 Jahre in der Wüste überlebt.
Es sind in dieser Zeit Menschen gestorben, aber niemand
ist verhungert.
Es ist nicht die Not an sich, die Essen lehrt. Not lehrt eher
die Gier. Sie lehrt auch, den Teller leer, ja sauber zu
machen. Essen lernen jedoch als ein Weg der Befreiung ist
das nach und nach erlernte Vertrauen, dass es genug gibt
für alle auch in schweren Zeiten, weil gemeinschaftlich
gesammelt und geteilt wird. Und es ist die gemeinsame
Erfahrung vom Hunger nach mehr, für die der Sabbat den
Raum gibt: Zeit, die Frustration zu verarbeiten darüber,
dass kein Manna vom Himmel fällt, dass keine Läden
geöffnet sind, dass die Mutterbrust nicht immer
undständig zur Verfügung steht, Zeit also, um erwachsen zu
werden und dem eigenen Hunger wirklich begegnen zu
können, diesem Hunger nach Sinn und einer Vision für das
gemeinsame Leben. Die Wüste , dieser für den Menschen
lebensfeindliche Ort, ist- wie ein Labor- immer wieder der
Ort der Gottesbegegnung, weil es dort keinerlei
Ersatzbefriedigung gibt, die Menschen davon abhält, dem
zu begegnen, was sie im Innersten ersehnen und nötig
haben: ein Leben, das ihrer Gottebenbildlichkeit entspricht.
Ich bin überzeugt: Wenn viele Menschen die
Wüstenerfahrung des Sabbat teilen, den Sonntag aushalten
und heiligen, das Innehaltens am 7.Tag wieder pflegen, und
damit den Rhythmus des freiheitlichen Lebens an ihre
Kinder und Enkel weitergeben, entsteht ein Klima, dass
unseren Planeten davor bewahren kann, zur Wüste zu
werden.