Karin Weinsberg – Diakonisches Werk Werra-Meißner

Tischrede beim Frauenmahl auf der Burg Ludwigstein in Witzenhausen am 10. März 2018
Frau Karin Weinsberg, Diakonisches Werk Werra-Meißner

Vorstellung des Projektes „Wohnen für Hilfe“
Witzenhausen, 10. März 2018

Sehr geehrte Damen,

wir möchten uns bei dem Organisationsteam für die Durchführung des heutigen Abends und für das leckere Essen bedanken! Eine logistische Herausforderung, die wunderbar gelungen ist.

Umso mehr freuen wir uns, hier zu sein und bedanken uns ganz herzlich für die Einladung. Leider ist die Teilnehmerin an diesem Projekt (Vanessa Thiele) an Grippe erkrankt und liegt mit Fieber im Bett. Ich soll Sie herzlich grüßen! Andere Teilnehmer sind entweder in den Semesterferien, auf Studienreise oder auch krank. Ich freue mich daher sehr, dass Frau Parker eingesprungen ist. Frau Parker ist die Koordinatorin des Projektes in Kassel. Ich danke ihr sehr für ihre Unterstützung beim Aufbau der Initiative in Witzenhausen. Ebenso danke ich der Stadt Witzenhausen, speziell Katja Eggert und Zahra Kanaani für ihre Mitarbeit in diesem Projekt.

Was ist Wohnen für Hilfe?

Durch meine Arbeit als Sozialarbeiterin in der Kirchlichen Allgemeinen Sozial- und Lebensberatung des Diakonischen Werks lernte ich während meiner Hausbesuche viele ältere Menschen kennen, die allein in ihren großen Häusern oder Wohnungen lebten. Oft waren es Frauen; der Mann war verstorben, die Kinder schon lange ausgezogen. Aber ich lernte auch ältere Ehepaare kennen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machten. „Können wir hier in unserer gewohnten Umgebung wohnen bleiben?“ Ein Satz, den ich häufig hörte, wenn es um Informationen rund um das „Älterwerden“ ging.

Gleichzeitig kamen in meine Beratungsstelle junge Menschen, z.B. alleinerziehende Mütter, die in Witzenhausen studieren wollten und Not hatten, eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Dann dachte ich oft an diese vielen leerstehenden, nicht genutzten Zimmer und wunderschönen großen Gärten auf meinen Hausbesuchen.

Viele dieser älteren Menschen möchten so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung leben. Oftmals sind es aber – für uns – scheinbar kleine Dinge, die sie daran hindern, dies auch zu tun. Das Haus und der große Garten können zu einer Belastung werden. Nachbarn, Verwandte und Freunde mag man nicht immer um Hilfe bitten.

Fragen tauchen auf, wie z.B.:
* Wer mäht den Rasen?
* Wer fegt im Winter den Schnee weg?
* Wer kauft für mich ein, fährt mich zu Arzt?
* Wer geht mit meinem Hund spazieren?
* Ich mag nicht mehr allein sein in diesem großen Haus. Ich bin nicht einsam, aber manchmal fühle ich mich doch sehr allein. Wer kann mir Gesellschaft leisten, ist für mich da, wenn ich jemanden brauche?

Das Projekt Wohnen für Hilfe beruht auf der Idee der nachbarschaftlichen gegenseitigen Hilfe. Menschen mit frei verfügbarem Wohnraum in ihrer Wohnung oder Ihrem Haus bieten diesen an und erhalten im Gegenzug von dem Wohnraumnehmer Unterstützung im Alltag. Als Faustregel gilt: Eine Stunde Hilfe für einen Quadratmeter Wohnraum. Gezahlt werden lediglich die Nebenkosten. Mit dieser Wohnform werden die Solidarität sowie der Austausch unter den Generationen gefördert. Das Erzielen von Einkünften wird dabei von dem Wohnraumgeber nicht beabsichtigt.

In einem Vertrag wird der Umfang der Hilfeleistungen genau festgelegt. Nach einer Probezeit von ca. 4 Wochen wird ein Vertrag für 1 Jahr geschlossen, der jederzeit verlängert werden kann.

Wohnen für Hilfe gibt es in ca. 30 Städten in Deutschland. Auch in vielen anderen Ländern gibt es diese Form des „Miteinander-Wohnens“.

Wohnen für Hilfe in Witzenhausen

Die erste Vermittlung in Witzenhausen erfolgte im Jahr 2016 zwischen einem älteren Ehepaar und einer Studentin aus Venezuela mit einer 12-jährigen Tochter. Sie wohnte zusammen mit ihrer Tochter in einem ca. 12 m² großen Zimmer in einem Studentenwohnheim. Da sie keinerlei finanzielle Unterstützung bekam, musste sie abends arbeiten, die Tochter war immer allein.

Das Ehepaar hat keine Enkelkinder, der Sohn wohnt weit entfernt in Süddeutschland. Am Anfang war es schwer, die Ehefrau davon zu überzeugen, sich für dieses Projekt zu entscheiden. Es braucht Mut und auch den Willen zur Veränderung. Sie hatte Angst davor, das diese Veränderung ihr Leben eher negativ beeinflussen würde. Sie wusste ja nicht, auf was sie sich da einlässt. Aber schon bei dem ersten Treffen, war das Eis gebrochen. Im Rausgehen nahm sie das Mädchen in den Arm und sagte: „Jetzt kommt Leben in die Bude“.

Als ich später mal anrief und die Familie besuchen wollte, sagte mir die Frau „Mein Mann ist nicht da, die beiden sind nach Göttingen gefahren…Eis essen“. Abends war das junge Mädchen nun oft bei den „neuen“ Großeltern und aßen gemeinsam Abendbrot.

Wohnen für Hilfe in Kassel

Wir berichten nun über ein zweites Beispiel in Kassel, das Interview mit der Teilnehmerin haben wir dokumentiert. Vanessa lebt seit 1 ½ Jahren bei einer 90-jahre alten Dame und unterstützt sie im Haushalt. Wir haben sie gefragt:

„Vanessa, wie kam es dazu, das Du Dich für Wohnen für Hilfe entschieden hast?

Ich war gerade in Neuseeland, dann bekam ich eine Zusage für einen Studienplatz im Auswahlverfahren. Innerhalb von 14 Tage musste ich nach Kassel ziehen. Meine Mutter hatte in Deutschland dann bereits schon nach Wohnungen gesucht und auch das Projekt „Wohnen für Hilfe“ gefunden.

Du sagtest, Du hattest auch in Kassel eine Wohnung gefunden. Hast Dich dann aber trotzdem für Fuldabrück und das Projekt entschieden. Warum?

Wohnen für Hilfe war klar attraktiver für mich. Neben dem offensichtlichen finanziellen Vorteil.
Es gibt meinen Leben einen besseren Sinn als nur zu studieren, ich kann gleichzeitig einem anderen Menschen eine Freude machen, das macht mich wiederum glücklich.

Hattest Du keine Angst vor der Verantwortung und der vielleicht vielen Arbeit, die da auf Dich zukommt?

Meine Oma war an Demenz erkrankt und vor einiger Zeit verstorben. Ich wusste ungefähr, auf was ich mich einlasse. Es gab einen Vertrag, in dem die Hilfeleistungen genau aufgeführt wurden. Außerdem kommt täglich die Sozialstation und jemand hilft Frau B. beim sauber machen. Die beiden Söhne leben zwar ca. 1 Autostunde weit weg, aber helfen ihrer Mutter auch regelmäßig.

Wie groß ist die Wohnung die Du hast und wieviel musst Du dafür bezahlen?

Die Wohnung liegt in einem sehr ruhigen und schönen Ortsteil mit einem tollen Ausblick und ist 85 m² groß. Wohnzimmer, Schlafzimmer, 2 Bäder. Die Mieten in Fuldabrück liegen für diese Wohnung zur Zeit bei ca. 600 Euro kalt. Ich zahle 85 Euro im Monat – also nur die Nebenkosten.

Nach dem Prinzip 1 Stunde Hilfe für einen Quadratmeter Wohnraum müsstest Du jetzt 85 Stunden im Monat arbeiten?

Nein, dies ist ja nur eine Empfehlung. Es kann frei verhandelt werden, wieviel Hilfe und Unterstützung benötigt wird und wieviel der Wohnraumnehmer leisten kann. An manchen Tagen gehe ich morgens früh zu Uni, da schläft sie noch und wenn ich abends nach Hause komme ist sie bereits zu Bett gegangen. Dafür gehe ich dann an den anderen Tagen zu ihr und bleibe länger.

Wie sieht Deine Hilfe konkret aus?

Ich helfe bei der Gartenarbeit, gehe einkaufen, leiste ihr Gesellschaft, ich vergewissere mich täglich, ob es ihr gut geht. Sie schätzt es, wenn ich gelegentlich essen runter bringe. Gemeinsam kochen kommt eher selten vor. Sie mag es nicht so sehr. Manchmal vergisst sie das Trinken und wir kochen dann einen Tee und trinken gemeinsam etwas.

Das hört sich alles zu gut an. Was würdest Du interessierten Studenten sagen, worauf muss man sich einstellen? Du wohnst 15km weit weg von der Uni.

Ich habe eine Verantwortung und Verpflichtung übernommen. Aber ich mag sie sehr, sehr gern. So fällt es mir leicht, mich um sie zu kümmern und ich kann viel von ihr lernen.
Ich melde mich – wie früher bei den Eltern – ab. Wenn ich über das Wochenende wegfahre, sage ich den Söhnen Bescheid.

Warum glaubst Du, haben viele ältere Menschen Angst davor, junge Menschen ins Haus zu lassen bzw. welche Hemmschwellen gibt es für dieses Projekt?

Möglicherweise haben ältere Menschen Angst davor aus der Routine gerissen zu werden. Oder es fällt schwer, Gewohnheiten zu ändern. Auch Angst vor Kontrolle bzw. weniger Entscheidungsfreiheit zu haben, mag eine Rolle spielen. Vielleicht ist es aber auch das Gefühl, sich einzugestehen, dass man alltägliche Dinge nicht mehr alleine schafft.

Und warum sollte man es trotzdem tun – ich meine jetzt beide Seiten?

Ich sehe meine Aufgaben nicht als Arbeit, sondern als Freizeit. Wenn ich viel für die Uni tun muss, freue ich mich sehr, wenn ich in der Pause runter zu ihr gehen kann, um mit ihr über Gott und die Welt reden zu können. Sie tut ihren Söhnen einen riesigen Gefallen, welche entlastet sind und sich nicht so viele Sorgen machen müssen. Wenn es funktioniert, ist es für beide eine Win-Win Situation und eine unglaubliche Bereicherung. Ich profitiere von ihrer Weisheit und im Gegenzug kann ich ihr in anderen Dingen zur Seite stehen und aktuelle Themen gut erklären. Aus einem Wohnverhältnis ist eine emotionale Bindung entstanden.

Vielen Dank für dieses Interview!“

Zum Abschluss haben Frau Parker und ich eine Bitte an Sie:
Erzählen Sie anderen Menschen bzw. Angehörigen von dem Projekt „Wohnen für Hilfe“. Von dieser neuen Form des Zusammenlebens. Veränderung muss nicht bedeuten, das alles schlechter wird. Wenn man Mut zur Veränderung hat, tun sich unglaublich viele neue spannende Türen auf. In Witzenhausen suchen viele internationale Studierende nach dieser Wohnform. Es sind auch diese internationalen Begegnungen, die das Projekt so interessant machen. Die meisten Studiengänge sind in Witzenhausen in englischer Sprache. Viele Studierende haben im Alltag keine Gelegenheit Deutsch zu sprechen. Umso mehr sind sie dankbar für die Möglichkeit, die ihnen dieses Projekt bietet.
Ich persönlich habe bei meinen Begegnungen mit diesen Menschen gelernt, wie wichtig die Großelterngeneration für junge Menschen ist und das viele junge Menschen die Nähe von älteren Menschen suchen.
Zum Abschluss noch ein schöner Satz von einer anderen Studentin aus Californien aus der Danksagung in ihrer Masterarbeit.
….“Meine deutschen Eltern Elisabeth und Martin verdienen ebenfalls ein großes Dankeschön. Die emotionale und finanzielle Unterstützung war sehr wichtig für mich. Durch die entspannte Zeit konnte ich immer Energie aufladen. Nicht nur in Form von leckerem Essen, sondern auch durch die Herzlichkeit, Wärme und Verständnis, welche ich dort angetroffen habe.“

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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