Heimat ist, wo das Herz ist
Tischrede zum Frauenmahl in Gränichen vom 15.8.14 von Katrin Remund
Was kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören? Das
hängt sicher davon ab, wo Sie geboren worden sind. Ich zum Beispiel bin als
Schweizerin geboren, mit einem langweiligen Stammbaum von lauter
Schweizerinnen und Schweizern; das Exotischste, was ich aufweisen kann, ist eine
deutsche Urgrossmutter.
In meinem Fall ist das innere Bild für „Heimat“ deshalb ganz typisch schweizerisch
besetzt: Mit Bergen, Alpwiesen und Kühen – und das, obwohl ich im flächsten Teil
des Mittelands aufgewachsen bin, im Seeland. Wobei unsere Nachbarn Bauern
waren und Kühe hatten, also wenigstens für die Kühe habe ich eine Legitimation.
Nun soll ich aber nicht über Kühe und Alpwiesen reden, sondern über die Frage, wie
die Kirche für Frauen zukünftig Heimat sein kann.
Aber ich kann mir nicht helfen: Auch wenn ich an meine kirchliche Heimat denke, die
reformierte Kirche, tauchen wieder verstaubte Bilder auf: Bilder der kleinen, uralten
Landkirche, in der ich konfirmiert wurde; Bilder von der liebevollen rundlichen Frau
unseres Pfarrers; Bilder von Sonntagsschulweihnacht und Christnachtfeier.
Heimatbilder eben, die genau so verklärt sind wie die Bilder von Alpwiesen und
Bergen: Bilder von einem Sehnsuchtsort, der nie so war und auch nie so sein kann
wie in meinen Erinnerungen.
Ja, Heimat ist ein Sehnsuchtsort, ein Idealbild. Die Realität sieht anders aus,
normaler, fehlerhafter. Und trotzdem: Ich war in meinem Leben zu Gast in
Freikirchen, in katholischen Kirchen, in orthodoxen Kirchen, habe überall für’s Leben
gelernt – aber ich habe auch gemerkt: Das sind nicht meine Heimaten.
Meine Heimat ist und bleibt diese trockene, wortzentrierte, liturgielose, immer etwas
verschlafene evangelisch-reformierte Landeskirche, der aktuell die Mitglieder in
Scharen davonlaufen. Meine Heimat ist und bleibt diese etwas zweifelhafte, aber
gerade deshalb umso liebenswertere alte Dame von einer Kirche.
Ja: So wie ich meinen rot-weissen Pass nicht einfach abgeben kann, so kann ich
auch meine kirchliche Heimat nicht einfach abstreifen. Sie hat mich geprägt und tut
es noch; ihr bin ich verbunden, und sie habe ich gern, auch wenn ich selber nicht
immer weiss warum.
Und: Ich glaube von ganzem Herzen an die Zukunft dieser alten Dame von einer
Kirche. Warum?
Ich habe vorhin gesagt, Kirche ist ein Sehnsuchtsort. Das war sie schon immer, und
darin liegt ihr Potential für die Zukunft. Kirche ist nämlich nicht nur ein Ort von
menschlicher Sehnsucht, sondern auch ein Ort von göttlicher Sehnsucht: Gottes
Sehnsucht nach uns Menschen, die in Jesus Christus Mensch wurde und die in uns
allen Hände, Füsse und ein Herz bekommen will.
Diese Sehnsucht Gottes nach den Menschen hat das Werden jeder Kirche
angestossen und ich glaube, Gott hält sie durch seinen Geist geheimnisvoll lebendig,
auch wenn wir Menschen manchmal sehr gut darin sind, genau diesen Geist Gottes
abzuwürgen, weil wir ihn für gefährlich oder falsch oder schlicht altmodisch halten.
Ja, ich glaube daran, dass die Kirche eine Zukunft hat, weil sie eben mehr ist als eine
Institution: Weil sie in all ihrer Imperfektion auch ein Abbild Gottes ist.
Aber es wird keine einfache Zukunft. Ich war im Frühling in einer Weiterbildung in der
anglikanischen Kirche von England. Das war ein erschreckender Blick auch in unsere
Zukunft: Eine einst riesige Landeskirche, die heute ein Schatten ihrer selbst ist und
kaum noch weiss, wie sie sich finanzieren soll.
Aber: Sie lebt! Gottes Geist ist eben nicht so schnell totzukriegen. Und die
anglikanische Kirche wächst wieder, seit sie angefangen hat, ihr Heimatsein
hinauszutragen zu den Leuten. Sie ist immer noch die Alte und erfindet sich
gleichzeitig neu: Sie fragt, was die Menschen wirklich brauchen.
Junge Familien brauchen am Sonntag Erholungszeit? Also machen wir
Bastelgottesdienst für junge Familien am Freitag Abend. Drogenabhängige sind auf
der Strasse? Also machen wir Kirche in der Suppenküche. Studenten treffen sich
gern im Café? Also machen wir Künstlerkirche im Café. Und die Leute kommen
tatsächlich, weil sie in ihrer Welt abgeholt werden bei dem, was ihnen wichtig ist. So
wird Kirche Heimat: Wenn sie dorthin geht, wo die Leute sind, innerlich und
äusserlich, und nicht erwartet, dass sie zu ihr kommen.
Das zeigt mir: Kirche muss sich wandeln, um die Menschen ihrer Zeit zu erreichen,
heute gerade auch die Frauen. Früher waren Kinder, Küche und Kirche die Heimat
der Frauen; das ist heute anders. Frauen leben heute in extrem vielfältigen Welten,
viele von ihnen haben keinen Bezug mehr zu Kirche egal welcher Konfession.
Aber wir haben ihn, wir Kirchenfrauen. Wir haben Bezug zu unseren Kirchen und zu
Gott, und wir haben Bezug zu Frauen, die in ähnlichen Welten leben wie wir, die wie
wir Künstlerinnen sind, Hundebesitzerinnen oder Vollzeitmütter.
Wir können Brückenbauerinnen sein und ein Stück unserer Kirchenheimat
hinaustragen zu diesen Frauen, die sonst nie mit Kirche in Berührung kämen.
Es beginnt und endet deshalb mit uns allen. Kirche, das sind wir. Kirche, das sind
nicht nur die in Rom oder die in Aarau oben – oder unten, je nachdem – Kirche, das
ist nicht nur der Pfarrer oder der Papst – Kirche, das ist nicht nur das Gebäude mit
dem Kreuz oder dem Güggel drauf. Kirche, das sind wir. Wir Frauen, jede in ihrer
Eigenart, zusammen mit allen anderen, die sich dazu zählen wollen.
„Heimat ist dort, wo das Herz ist,“ sagt ein Sprichwort. Und darin liegt für mich die
grosse Kraft und die Zukunft unserer Kirche: Dass sie den Herzen Raum gibt und so
Heimat wird für viele.
Die Kirche kehrt damit zurück zu ihren Anfängen: Ohne Geld, ohne Kirchtürme, nur
mit Laienpersonal hat alles angefangen – aber mit einem grossen Herz und einer
ansteckenden Begeisterung für die Sache von Jesus Christus. Wenn dieser Christus
in uns eine Heimat hat, dann genügt das. Der Rest ist dann Gottes Sache.
Amen.