Lamya Kaddor – Islamwissenschaftlerin, Autorin, Mitbegründerin des Liberal-Islamischen Bundes

Düsseldorf, 6.11.2011

Einfach wird es uns nicht gemacht. Es gibt Ansichten über
muslimisches Leben in Deutschland, die es auf der Beliebtheitsskala so mancher
prominenter und weniger prominenter „Islamkritiker“ bis nach ganz oben
geschafft haben. Im Laufe der Zeit wurden daraus echte Topoi – stereotype
Redewendungen beziehungsweise feststehende Bilder –, die mit der Realität wenig
bis nichts zu tun haben. Zu diesen Topoi gehört, dass die Deutschen eine
falsche Toleranz im Umgang mit Muslimen übten; dass muslimische Eltern ihren
Töchtern massenhaft die Teilnahme am schulischen Schwimmunterricht
verweigerten; oder dass immer mehr Frauen ein Kopftuch trügen. Im realen Leben
lassen sich all diese Vorstellungen entweder längst widerlegen, oder gar nicht
erst entwickeln, da es keine (statistischen) Grundlagen gibt, auf die man
solche Aussagen stützen könnte. Trotzdem halten sie sich hartnäckig.

Besonders verbreitet ist auch das Bild vom Jammer-Muslim,
der stets beleidigt ist und krankhaft Forderungen stellt. Bezeichnenderweise
wurde der Fernsehproduzent und Teilnehmer der ersten Phase der Deutschen Islam
Konferenz, Walid Nakschbandi, nachdem er im „Spiegel“ (41/2010) erklärt hatte,
dass ihn in den letzten drei Jahrzehnten nichts so sehr berührt habe, wie der
aktuelle schrille Umgang mit seiner Religion, dem Islam, prompt im Internet als
Heulsuse verspottet.Gängig ist ferner
das Bild vom verschlagenen Muslim, dem es erlaubt ist, Nichtmuslime zu belügen
und zu betrügen – Eine Fehlinterpretation des Begriffs taqiyya, der eigentlich
eine Vorstellung im schiitischen Glauben bezeichnet, der zufolge Gott es
gestattet, seinen Glauben zu verleugnen, um sich selbst oder sein Familie vor
Gefahren zu schützen. Diese möglicherweise bewusste Fehlinterpretation und das
Klischee vom Jammer-Muslim sind für „Islamkritiker“, denen es im Grunde nicht
um konstruktive Auseinandersetzung mit dem Islam, sondern um die Marginalisierung
von Muslimen unter dem Deckmantel einer legitimen Religionskritik geht,
allerdings ungeheuer praktisch. Wer ihnen folgt, muss kritische Worte von
moderaten Muslimen nicht ernst nehmen, da sie entweder als Ausdruck
pathologischen Wehklagens zu verstehen sind, oder – wenn die Aussagen nicht dem
kritisierten Muster entsprechen – einfach als Versuch der Täuschung (taqiyya)
verworfen werden. So bleiben dann nur noch die gefährlichen Religionseiferer
übrig, die den „Islamkritikern“ als Aufhänger für ihre Agitation dienen. Und
damit nicht genug. Um die Dringlichkeit ihres Handels zu unterstreichen,
behaupten sie, die „guten“ Muslime, also die integrierten und erfolgreichen,
die auch in Talkshows immer wieder zu sehen sind, seien nur Ausnahmen; dabei
bedeutete selbst der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maiziere, dass 85
bis 90 Prozent der Muslime integrationswillig seien.

Diese eher demagogisch als islamkritisch zu bewertenden
Gedankengänge der „Islamkritiker“ finden zwar vorwiegend nur bei ihnen selbst
und bei ihren Sympathisanten positive Resonanz, aber diese Gruppe hat
inzwischen eine gewaltige Wortmacht erlangt, was spätesten in der Debatte um
das Buch Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin deutlich geworden ist.
In dieser Situation ist es wichtig, dass die Muslime von Außenstehenden
Zuspruch erfahren. Alleine würden sie derzeit niemals das nötige Gehör finden,
zumal man nicht vergessen darf, dass sie nur eine relativ kleine Minderheit in
Deutschland stellen: Rund vier Millionen stehen rund 78 Millionen Nichtmuslimen
gegenüber.

Und dennoch muss man sich mit dem Gedanken
auseinandersetzen, dass sich die deutsche Gesellschaft verändern wird; genauso
wie alle anderen Gesellschaften der Erde in einer Zeit der Globalisierung. Das
Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Veränderungen gab es in den
vergangenen Epochen schon immer. Sie gingen stets mit Ängsten vor einem
Kulturverlust und mit Auseinandersetzung einher. Man darf diese Konflikte nur
nicht mehr eskalieren lassen.

Miteinander in der Schule

Vieles von dem, was sich in der breiten Gesellschaft
abspielt, findet sich im Mikrokosmos Schule wieder. Zumindest die jüngeren
Generationen treffen vor allem dort auf Andersgläubige. Im Schulalltag sind sie
gezwungen aufeinander zuzugehen, miteinander zu arbeiten und Kompromisse zu
schließen. Auch in Schulen mit einem sehr hohen Anteil muslimischer
Schülerinnen und Schüler bleiben das gemeinsame Unterrichten und die
Konfrontation mit andersgläubigen Mitschülern nicht aus. Noch immer ist es
völlig normal, selbst hier geborene Menschen und deren Kinder im Zweifelsfall
als „Ausländer“ oder „Migrant“ zu bezeichnen. Wenn das Identifikationsmerkmal
„Muslim“ hinzukommt – und muslimische Jugendliche identifizieren sich häufig
über den Islam, auch wenn sie in der Regel wenig Kenntnisse darüber haben –,
dann wird man von den anderen eben „Muslim“ genannt, aber und nicht
„Deutscher“.

Nach meinen Erfahrungen als Lehrerin ist es vor allem im
Bereich der Hauptschulen auffällig, dass eine bestimmte Distanz zwischen diesen
beiden Gruppen existiert. Allerdings ist diese eher dem Sozialverhalten als der
weltanschaulichen oder gar religiösen Einstellung geschuldet. Um die Probleme,
die aus solche Strukturen erwachsen können, anzugehen, ist zunächst das Unterrichten
in der eigenen Religion und Kultur (ab der 1. Klasse) sinnvoll. Das zeigen
meine Erfahrung aus dem Schulalltag. Erst später ist ein gemeinsames
Unterrichten im Klassenverband (ab der 8. Klasse) angezeigt. Je mehr und
stärker man sich selbst hinsichtlich seiner Identität verortet, desto
selbstsicherer und damit offener kann man nachher auf Neues und Andere
eingehen. Demzufolge ist es notwendig, konfessionellen islamischen
Religionsunterricht zu erteilen. Zu klären zu sein, ist das „mit wem?“.

Zeitgemäßer Islam

Bei allen Debatten über den Islam und die Muslime, wird
ein Grundfrage meist ausgeblendet: Was ist überhaupt „der“ Islam? Muslime
diskutierten bisher beispielsweise darüber, ob man von einem „deutschen Islam“
sprechen darf. Denn im Grunde genommen bleibt der Islam immer dieselbe Religion
und die meisten wehren sich gegen eine Nationalisierung des Glaubens. Deshalb
schlagen sie vor, von einem „Islam in Deutschland“ zu sprechen. Wenn man es so
formuliert, dann begreift man den Islam als immer und überall gleich
verstandene und gleich gelebte Religion. Wenn von „deutscher Islam“ oder
„Euro-Islam“ die Rede ist, begreifen seine Verfechter den Islam als eine
Religion, die nicht immer und überall gleich verstanden und gelebt wird,
sondern je nach Kultur, Tradition, Geschichte eines Landes, nach den
Lebensumständen der Muslime modifiziert werden muss. Beide Sichtweisen sind
schlichtweg falsch. Der Islam besteht zwar immer aus der gleichen Theologie,
aber er kann und muss für das Leben interpretiert werden. Den Islam zeichnet
gerade ein nationen-, ethnien- und sprachenübergreifender Glaube aus. Es darf
also weder darum gehen, von einem „Islam in Deutschland“ zu sprechen noch von
einem „deutschen Islam“, sondern von einem „zeitgemäßen Islam“. Hier ist die Theologie
aufgefordert, mit den Veränderungen in der Welt Schritt zu halten, anstatt zu
versuchen sie aufzuhalten. Mit einem „zeitgemäßen“ Verständnis vom Islam kann
man überall auf der Welt leben – es sei denn, man befindet sich in einem
faschistischen Gottesstaat.

Der Liberal-Islamische Bund e.V. steht genau für dieses
Islamverständnis und versucht, dies als religionsimmanente Definition von
Theologie zu propagieren. Nach über fünfzig Jahren u.a. muslimischer
Gastarbeitereinwanderung, wurde im Mai dieses Jahres erstmals in der Geschichte
der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland der Liberal-Islamische Bund e.V.
mit Sitz in Köln gegründet.

Uns ist es ein wichtiges Anliegen, einem
liberal-gläubigen Verständnis des Islam in Deutschland und Europa eine Stimme
zu geben. Dabei vertritt der LIB e.V. ein pluralistisches Gesellschaftsbild und
bekennt sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dementsprechend
lehnt der LIB jegliche Form von rassistischer, u.a. antisemitischer,
antichristlicher oder antiislamischer Auffassung ab.

Der LIB tritt darüber hinaus unter anderem konkret ein
für

•eine
"dogmafreie" Auslegung religiöser Schriften wie dem Koran auch unter
Einbeziehung historischer und sozialer Kontexte

•die umfassende
Geschlechtergerechtigkeit, sowie deren pädagogische und theologische Umsetzung

•die Einführung
eines flächendeckenden islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache an
öffentlichen Schulen

Debatte um „liberale“ und „konservative“ Muslime

Es heißt, mit den „jungen Konservativen“ – wie ich eine
Gruppe, meist gebildeter Glaubensgeschwister ohne theologisches Konzept, dafür
aber mit Vorbehalten gegen liberale Strömungen nenne – habe ich ein
„Phantombild“ gezeichnet (Bahners). Als ich eine Gruppe meist gebildeter
Glaubensgeschwister ohne theologisches Konzept, dafür aber mit Vorbehalten
gegen liberale Strömungen, die „jungen Konservativen“ nannte, hieß es, ich
hätte ein „Phantombild“ gezeichnet (Bahners). Richtig, es gibt keine konkreten
Zahlen über die Zugehörigkeit deutscher Muslime zum säkularen, liberalen,
konservativen oder fundamentalistischen Flügel. Hier liegt eindeutig ein
Forschungsdesiderat vor. Wir haben lediglich Annäherungen und grobe Raster
durch Einzelerhebungen und Schätzungen – eine davon sind die zur Verbandszugehörigkeit
der Muslime in Deutschland, die in der Regel mit 20 bis 30 Prozent angegeben
wird. Und dennoch ist die, ja, zunächst einmal persönliche Beobachtung aus
meinem Arbeitsalltag, die zur Benennung der jungen Konservativen geführt hat,
nicht aus der Luft gegriffen.

Da die Muslime keine institutionalisierten Plattformen
für einen Meinungsaustausch haben, verlegen sie sich auf die neuen Medien wie
Facebook, StudiVZ oder die diversen Weblogs. Und exakt hier haben sich zuletzt
viele der angeblich nur als Phantom zu begreifenden jungen Konservativen zu
Wort gemeldet; offenbar haben sie sich ganz persönlich angesprochen gefühlt.

Es geht nicht darum, diese Gruppe zu stigmatisieren.
Sondern es geht darum, die Unterschiede im Islam, die wir Muslime alle tagtäglich
erleben, auch benennen zu dürfen. Viele Muslime befürchten, durch
Etikettierungen werde die Spaltung der muslimischen Gemeinschaft und mithin
ihre Schwächung betrieben.

Der bloße Hinweis auf einen längst vorhandenen Zustand
kann aber nicht die Ursache für den Zustand sein. Wie mein Stellvertreter im
LIB-Vorstand, Luay Radhan, vor einiger Zeit auf dieser Seite schrieb: „Wenn wir
über die komplexen Phänomene unserer Realität reden oder schreiben brauchen wir
nun einmal Begriffe, die etwas auf den Punkt bringen.“

Trotzdem sind die Sorgen, die Umma könnte in Zeiten der
Islamfeindlichkeit gechwächt werden, ernst zu nehmen. Der unheilvolle Diskurs
der so genannten Islamkritik, in dem die Broders, Keleks und Sarrazins dieser
Welt pauschal auf Muslime einschlagen, hat diese ins Mark getroffen.
Liberalität, etwas was dem traditionellen Kontext des Islam ureigen ist, führt
nun bei vielen Muslimen zu Verunsicherung. Aus Angst, in der deutschen
Öffentlichkeit stigmatisiert zu werden, und angesichts eines mangelnden
theologischen Profils, wollen sich viele lieber nicht als islamisch-konservativ
verstehen – zumindest nach außen hin.

Der Islam in der Moderne ist geprägt davon, dass die meisten
nach der einen Wahrheit suchen und diese für alle durchsetzen wollen. Das ist
etwas, das der Geschichte des Islam weitgehend fremd ist. Das Bestehen
unterschiedlicher Meinungen ist geradezu das, was diese Religion immer
ausgezeichnet hat. Wem die Differenzierung in „liberal“ und „konservativ“ heute
Unbehagen bereitet, der soll bitte Alternativen vorschlagen. Eine
althergebrachte Religion kann nur durch das gemeinsame Ringen um Positionen
lebendig bleiben. Gewiss wird es Menschen geben, die versuchen werden, dieses
Ringen auszunutzen, um Muslimen zu schaden. Dagegen müssen sich alle Seiten
gemeinsam stemmen.

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