Luzia Sutter Rehmann – Titularprofessorin für Neues Testament Basel und Studienleiterin Arbeitskreis für Zeitfragen Biel

Lenzburg, 16.08.2013

In der Bibel geht es ganz oft ums Essen.

Doch, wenn wir in den Evangelien ganz genau hinschauen, sehen wir kaum Nahrungsmittel. Brot wird genannt, mehrmals, und Fische. Doch nirgends wird eine Marktszene geschildert. Kein Gewürzmarkt, keine Säcke mit Getreide, Oliven, Früchte – darüber wird geschwiegen. Warum eigentlich? Warum sitzen die Fischer am See und flicken ihre Netze, statt Fische zu fangen? Wieso sehen wir keinen Fischverkauf, nicht einen einzigen? Wenn von einem Feigenbaum die Rede ist, dann, weil er keine Feigen gibt. Warum isst Johannes Heuschrecken?

Die Bitte um das tägliche Brot – so sollt ihr bitten, hartnäckig, ja, unverschämt wie der Freund, der zu seinem Nachbar geht, in der Nacht, und ihn um Brot bittet. Weil sein Freund vorbei gekommen ist, auf seiner Reise, und natürlich Hunger hat, und er aber nichts, rein gar nichts zu Hause hat, das er ihm geben könnte. Darum geht er eben zu seinem Nachbarn und weckt ihn. Der aber will nicht mehr aufstehen, er ist schon im Bett. So soll der Freund so unverschämt klopfen und rufen, bis der Nachbar aufsteht – nicht, weil er gutmütig ist, sondern weil er seine Ruhe haben will. Er wird geben, damit er wieder schlafen kann, so erzählt es das Lukasevangelium, Kapitel 11 – gleich im Anschluss an das Gebet um das tägliche Brot.

Unverschämt werden, poltern und schreien, für ein Bisschen Brot… Das kommt uns erstmal fremd vor. In diesem hartnäckigen Ruf nach Brot steckt eine Kraft. Eine Wucht. Gott lässt sich von dieser Wucht ansprechen. Gott verlangt nicht, dass wir mit gesenktem Haupt, vor uns hinbrummeln. Die unverschämte Bitte um Brot für den Freund geht vom Grundrecht auf Nahrung aus – auch wenn das der schlafende Nachbar nicht hören will.

Solche Geschichten geben mir zu denken. Keine bunten Marktszenen, keine dampfenden Schüsseln – aber die Bitte um ein Bisschen Brot. Hunger war eine Realität in den Dörfern Palästinas, die vom Herbstregen abhängig waren, und deren Bauern unendlich hohe Pachtzinse abgeben mussten. Die Armen sind immer die Ersten, wenn es um Knappheit, Preiserhöhung und Hunger geht.

Im Roman „Atemschaukel“ beschreibt Herta Müller den Hunger und seine besitzergreifende Gewalt:

„Es gibt keine passenden Wörter fürs Hungerleiden. Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.“ 

Herta Müller gelingt es, Worte für den Hunger zu finden. Von ihr können wir lernen, was das Schweigen über den Hunger heißt.

„Was kann man schon sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts anderes mehr denken kann. (S. 24-25)

Immer ist der Hunger da. Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will. (S. 86)

Nur darf man über den Hunger nicht reden, wenn man Hunger hat. (S. 90)

Wenn der Hunger am größten ist, reden wir von der Kindheit und vom Essen. Die Frauen reden ausführlicher vom Essen als die Männer. (S. 115)

Aus diesem Roman, resp. von diesen Zeilen lerne ich, dass Hunger schon da sein kann, bevor wir ihn im Text vermuten. Weil es ihn auf eine Weise gab, wie wir uns nicht vorstellen können. Er ist vielleicht schon längst da, bevor eine Geschichte beginnt. Wir müssen auch die Evangelien auf Hunger hin verdächtigen: Es ist nicht der Hunger, der uns beweisen muss, dass er da ist  – wir müssen ihn lesen lernen, als Voraussetzung für Geschichten annehmen, ohne dass er sich offiziell im Text ankündigt.

„Was kann man über chronischen Hunger schon sagen…“ Hunger passt schlecht in die Sprache hinein. Die Worte schlottern an ihm. Sie verdecken seine Wucht, seine Gemeinheit, seine brutale Gewöhnlichkeit, seine Totalität, die Menschen in die Knie zwingt und erniedrigt, weil sie ihm ausgeliefert sind. Hunger beherrscht die Menschen, ihr Denken, ihr Streben, ihr Tun. Für hungrige Menschen ist diese Beherrschungserfahrung beleidigend. D.h. zu Hunger gesellt sich Scham, Wut, Erniedrigung, Ohnmacht. So wie von Gewalterfahrungen nicht geredet werden kann, so kann auch vom Hunger nicht geredet werden.

Es gilt also, das Schweigen im Text zu hören. Das Schweigen zeigt seine Präsenz deutlicher als Worte, die einem vergehen, wenn man Hunger hat. Das Schweigen ist der Schatten des Hungers, der ihn verrät. Hunger ist da, ohne dass darüber mehr geredet wird. Das ist für uns gewöhnungsbedürftig.

Hungrige Ohren möchten Essensgeschichten hören. Über das Essen lässt sich gut reden, im Gegensatz zum Hunger. Essensgeschichten hat man sich vielleicht weniger am Tisch erzählt, sondern mit knurrendem Magen statt eines Essens. Frauen sind als Tradentinnen und Erzählerinnen von Essgeschichten besonders zu vermuten, weil sie genau wussten, wie man richtiges Brot macht und welche Zutaten eine Speise verfeinern. Kochen wäre ihre Welt, wenn sie etwas zum Kochen hätten. Doch in Hungerzeiten haben sie immerhin noch das Erzählen, das Wissen, die Erinnerung, die Worte, die zwar nicht satt, aber beinahe glücklich machen.

Die Geschichte von der Brotvermehrung wird in den Evangelien sechsmal erzählt! Keine andere Geschichte wird so oft wiederholt. Warum? Wenn wir den Schatten des Hungers wahrnehmen, begreifen wir den Glanz dieser Geschichte. Dass sogar noch Essen übrig blieb. Dass alle satt wurden.  An diesem Sattwerden zeigt sich die Nähe Gottes eben ganz besonders.

Diese Brotwundergeschichte liebe ich sehr. Wir mögen darüber rätseln, wie das zu und her gehen konnte, dass plötzlich genug Brot und Fisch da waren. Aber die Geschichte selbst, sie erzählt von der Verwandlung der Hungrigen. Zuerst, so erzählt es das Markusevangelium, sieht Jesus die grosse Menschenmenge, die wie Schafe waren ohne Hirte. Also orientierungslos, durcheinander, hungrig. Warum waren sie überhaupt in solchen Scharen unterwegs? Mussten die nicht arbeiten? Oder hatten sie etwa keine Arbeit? Konnten sie ihre Höfe und Tiere einfach verlassen, oder hatten sie keine Höfe, keine Tiere, und waren darum so rastlos auf der Suche?

Sie kennen die Geschichte. Da es keine Restaurants in der Nähe hat und die Rucksäcke wacker leer sind, kam eine gewisse Ratlosigkeit auf. Es gab nur fünf Brote und zwei Fische, das reicht nirgends hin bei 5000 Leuten. Nun geschieht aber etwas Wunderbares. Jesus sagte zu ihnen, sie sollen sich in symposia niederlegen – also in Trink- oder Essgruppen. Wörtlich heisst es:

39Da befahl er ihnen, alle sollten sich in Tischgemeinschaften (symposia) mitten auf der grünen Wiese niederlegen. 40Sie lagerten sich aber prasiai prasiai.

Lustigerweise folgten die Menschen Jesus nicht. Sie bildeten keine symposia, sondern Lauchbeete. Prasiai sind Gemüsebeete, Lauchbeete. Damit übertreffen die Leute Jesu Anweisung. Sie legen sich Lauchbeet für Lauchbeet ins Gras, wie ein Beet neben dem anderen.

Und das finde ich das Wunderbare an dieser Geschichte. Jesus lehrte die Menschen so gut, dass sie nicht einfach folgten. Sondern übertrafen. Aus den Schafen wurden Lauchbeete. Aus armen Hungrigen wurden Tora-Schülerinnen und –Schüler. Die so gut verstanden, worum es ging, dass sie selbst Lebensmittel wurden, dass sie zu wurzeln begannen, sich zu strecken, zu recken, zu grünen, zu wachsen. Vor unseren Augen.

Zu diesem geordneten Gartenbeeten findet sich eine kleine Erzählung im Talmud: „Wenn Genossen dasitzen als lauter Gartenbeete und sich mit der Tora beschäftigen, dann fahre ich hernieder zu ihnen und merke auf ihre Stimme und höre.“ 

Wenn zwei oder drei in meinen Namen zusammen sind, wenn sie wie Gartenbeete beieinander sitzen und in der Bibel blättern, sich mit der Tora befassen, wird es lebendig. Es ist nicht einfach ein Brotwunder, sondern eine Verwandlung, die die Hungrigen erfasst: Sie werden zu Torahungrigen, zu einem Garten, der sich nach lebendigem Wasser ausstreckt.

Nun müssen wir das Speisungswunder nicht zerreden. Was wirklich geschah, lässt der Text beiseite. Doch wichtig ist, dass aus dem ungeordneten Haufen eine geordnete Versammlung wird wie Lehrhaus, wie wir heute Abend.

Ich merke manchmal, wenn ich mit Frauen zusammen sitze, dass solche Transformationen möglich sind. Wie die Hungrigen in der Brotwundergeschichte beginnen sie zu fragen. Zusammenhänge zu entdecken, zu denken, zu hinterfragen und zu deuten. Sie beginnen Ordnung herzustellen im Kopf, ordnen die Welt neu. Sie essen nicht gedankenlos, was man ihnen vorsetzt, sie grasen nicht einfach alles ab, auch wenn es ihnen nicht gehört oder ungesund ist.

Vielleicht hat der Text sogar eine vegetarische Note. Aber wichtig ist, dass die

Hungrigen sich anders positionieren, sich neu definieren und dann wurden sie satt … Sie wurden selbst zu Lebensmittel vor unseren Augen. Damit schlägt diese Geschichte dem Hunger ein Schnippchen. Die Hungrigen lassen sich nicht einspannen und vorführen. Nein, sie transformieren sich und werden lebendig, sie folgen nicht aufs Wort, aber sie beginnen so zu handeln, dass Gott herniederfährt und sich zu ihnen setzt.

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