Kalkar, 03.02.2012
„Mit welchem Beitrag sollen Kirche und Religionen auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren, die von Umbrüchen, sozialen Spannungen und Katastrophen erschüttert ist?“
Was zählt? Was hat Bestand? Was trägt? – das sind Fragen in einer Zeit, in der Gewalt, Krisen und Katastrophen unsere Gesellschaft durchziehen.
Wir brauchen eine neue, hoffnungsvolle Perspektive, die auf Glaubwürdigkeit, Wahrheit und Vertrauen fußt. Glaubwürdigkeit ist die Klammer zwischen Wahrheit und Vertrauen.
Wir brauchen nicht immer mehr Gesetze, die bis in den letzten Lebensbereich hineinwirken. Wir brauchen auch nicht den erhobenen Zeigefinger oder ein Mehr an Geboten, die uns vorgeben, wie wir zu leben haben.
Was wir brauchen sind Menschen und Institutionen, die für uns zu Vorbildern in Sachen Glaubwürdigkeit werden. Glaubwürdig zu leben bedeutet, dass Hören und Tun, Reden und Handeln überein stimmen.
Angesichts eines weit verbreiteten Vertrauensverlustes muss auch die Kirche immer wieder aufs Neue um Vertrauen werben. Vertrauen erwächst aus konkreten Erfahrungen:
• Auch im Umbruch bleibt die Kirche an der Seite der Menschen und bietet ihnen Heimat.
• Auch in der Krise nimmt die Kirche die Sorgen und Nöte der Gläubigen wahr.
• Auch in Zeiten der Sinnsuche und zunehmend kritischer Distanz geht die Kirche immer wieder auf die Orientierung Suchenden zu.
Jede Gemeinschaft baut auf Wahrheit auf. Gelingendes Zusammenleben kann nur dann gelingen, wenn wir ehrlich zueinander sind und uns aufeinander verlassen können.
Das klingt selbstverständlich. Aber mal ehrlich: Wie halten wir es selber mit der Wahrheit?
Haben Sie in dieser Woche schon geflunkert, geschwindelt, geschmeichelt oder schöngeredet?
Kein einziges Mal? Dann sind Sie eine Ausnahme.
Wissenschaftlicher haben herausgefunden, dass jeder Mensch statistisch gesehen zweimal täglich lügt.
„Es geht nicht ohne Lügen.“ Das bestätigt ein Journalist der Süddeutschen Zeitung, der 2010 ausprobiert hat, vierzig Tage lang „ehrlich“ zu leben.
Wir brauchen sogar ein gewisses Maß an Lügen, um Frieden zu wahren. Denn das Achte Gebot – wahrhaftig zu sein – gilt nicht schrankenlos. Wie alle Gebote des Dekalogs steht es unter dem höchsten Gebot der Liebe und der Mitmenschlichkeit. Ein Sprichwort drückt es so aus: „Wahrheit ohne Liebe ist brutal – Liebe ohne Wahrheit ist Heuchelei”.
Auch die Kirche muss sich am Gebot der Wahrhaftigkeit messen lassen. Gerade die Kirchen stehen wie kaum eine andere Institution für die Forderung nach Wahrheit, Anstand und Moral.
Wenn diese Werte der Kirche selber – tatsächlich oder vermeintlich – verloren gehen, ist die Grundlage ihrer Autorität erschüttert. Weil die Erwartungshaltung an die Kirchen so besonders hoch ist, verwundert es nicht, dass hier die größten Verwundungen entstehen können und Menschen enttäuscht der Kirche den Rücken kehren, wenn die Kirche plötzlich mit zweierlei Maß misst. Eine repräsentative Umfrage für Readers Digest aus dem Jahr 2011 hat ergeben, dass zwei von drei Deutschen kein Vertrauen mehr in die Kirchen haben.
Trotz eines nicht zu leugnenden Vertrauensverlustes gibt es aber auch Anzeichen für neu verwurzelte Glaubwürdigkeit.
Ein ehrlicher Umgang mit Missständen, ein offener Dialogprozess, eine authentische Verkündigung des Evangeliums und jede zwischenmenschliche Begegnung bietet der Kirche immer wieder neu die Möglichkeit zu zeigen, dass ihr Handeln zu einer menschenfreundlicheren Gesellschaft führt. Dies kann nur mit Wahrhaftigkeit gelingen. Wahrheit trägt in jeder Begegnung dazu bei, Vertrauen zu stiften und Wunden zu heilen.
Die Kirche muss dem Vertrauensverlust der Menschen und den Unsicherheiten unserer Zeit stets aufs Neue Glaubwürdigkeit entgegensetzten. Glaubwürdigkeit erwächst aus einer christlichen Grundhaltung der Bestimmtheit, Offenheit und Schwesterlichkeit.
Lassen Sie mich dies erläutern:
Bestimmtheit bedeutet, religiöse Überzeugung und historische Tradition authentisch zu leben. Sie setzt nicht auf Beliebigkeit und moderne Strömungen. Die Frohe Botschaft ist ein Pfund, mit dem die Kirche wuchern kann, unabhängig vom Zeitgeist. Im Zentrum allen kirchlichen Handelns muss wieder deutlich wahrnehmbar das Wort Gottes stehen. Die Kirche darf nicht den Eindruck erwecken, vor allem mit sich selbst beschäftigt zu sein. Sie muss wieder stärker den Menschen zugewandt sein.
Offenheit bedeutet die Auseinandersetzung mit den Fragen unserer Zeit. Es geht darum, Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu begreifen. So kann die Kirche zum Ort des Austausches unterschiedlicher Positionen werden. Nur in der Begegnung und im Gespräch auf Augenhöhe kann Neues entstehen. Dies schließt den ökumenischen Gedanken in besonderer Weise ein.
Schwesterlichkeit bedeutet, einander in Würde und Respekt anzuerkennen. Ich wünsche mir, dass Schwesterlichkeit als christliche Grundhaltung bald gelebte Realität wird, auch ohne dies immer wieder anmahnen zu müssen.
Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob die Kirche wahrhaftig mit ihnen umgeht oder ihnen etwas vormacht. In einer Zeit des Wandels müssen Brüche im Miteinander ehrlich angesprochen werden. Nur im Dialog kann eine neue, hoffnungsvolle Perspektive entstehen.
Vaclav Havel hat einmal gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat, egal wie es ausgeht. Nur wenn wir diese Hoffnung bewahren, können wir Gottes Botschaft glaubwürdig in die Welt tragen. Das ist unsere Aufgabe.
Vielen Dank.