Stans (Schweiz), 27.01.2012
Zuerst, geschätzte Damen, danke ich den Initiantinnen des heutigen Abends Maria Oppermann und Monika z’Rotz-Schärer ganz herzlich für die Einladung. Es ist mir eine grosse Ehre an diesem ersten „Stanser Frauenmahl“ sprechen zu dürfen.
Weil wir uns hier in der evangelischen Kirche befinden, möchte ich mich ganz kurz zu meinem persönlichen Bezug zur reformierten Kirche äussern.
Meine Mutter war reformiert, mein Vater katholisch und ich wurde hier in dieser Kirche reformiert getauft. Kurz vor der Einschulung hat die katholische Kirche diese Tatsache registriert, und mein Vater hatte ein Problem. Er wurde vor die Wahl gestellt: Entweder tauft man das Kind um, oder er wird exkommuniziert. Das wollte meine Mutter nicht und erklärte sich bereit mich umtaufen zu lassen, unter der Bedingung, dass mein Vater mich bis zu meinem 18. Lebensjahr jeden Sonntag zur Kirche begleitet. Damit waren alle einverstanden und ich wurde katholisch. Die Bedingung hat meine Mutter allerdings relativ rasch bedauert, weil die Kirchgang-Begleitungen jeweils ausgedehnte Sonntagsapéros zur Folge hatten.
Die interkonfessionelle Familiensituation hatte für mich aber viel Positives. Wir haben oft Glaubensfragen diskutiert, und ich lernte schon als Kind kritische Fragen zu stellen.
Jetzt aber zum heutigen Thema: „SEI WAS DU BIST - GIB WAS DU HAST!“
Ein weiteres Feld hätten sich die Gastgeberinnen nicht ausdenken können. Das merkte ich allerdings erst bei den Vorbereitungen.
„SEI WAS DU BIST“, ist schwieriger, habe ich gedacht. Also fange ich mit dem zweiten Teil an „GIB WAS DU HAST“. Es dauerte aber nicht lange bis ich gemerkt habe, die zwei Imperativ-Sätze kannst du gar nicht auseinander halten, die gehören zusammen.
Wenn du gibst, was du hast, kannst du dann noch sein, was du bist? Wahrscheinlich schon, weil man ja etwas zurück bekommt, wenn man seine Zeit, seine Gedanken, seine Fröhlichkeit oder Kreativität verschenkt. Wo aber ist die Grenze? Gibt es nicht einen Punkt, an dem man mehr gibt, als man hat? Und was ist denn das?
Ist es einfach Selbstausbeutung oder ist der verschwenderische Umgang mit den eigenen Ressourcen eben gerade das, was ich bin? Entferne ich mich von dem, was ich bin, wenn ich mich den Menschen verweigere, die mich aussaugen?
Die gleiche Frage stellt sich auch im gegenteiligen Fall. Wenn ich ohne Rücksicht auf Verluste meine eigenen Interessen verfolge, ist das dann einfach Egoismus, oder ist das Fehlen von Empathie eben gerade das, was mich ausmacht?
Und warum sind wir so oder so geworden?
Der inzwischen verstorbene Stanser Pfarrer Theodor Gander hat einmal gesagt: „Wenn ein Kind auf die Welt kommt, ist das Neugeborene wie frisch gefallener Schnee.“
Ein wunderschönes Bild, finde ich, das zum Nachdenken anregt.
Möglicherweise ist die unberührte Schneedecke von unterschiedlicher Beschaffenheit: die Eine ganz weich, und die andere vielleicht etwas härter. Aber Spuren hinterlassen die Verantwortlichen auf alle Fälle, ob sie wollen oder nicht. Und so sind wir eigentlich alle zuerst einmal das Resultat von frühkindlichen Erfahrungen.
Ich zum Beispiel war ein überaus freundliches Kind. Aber nicht etwa weil ich so uneingeschränkt glücklich gewesen wäre, sondern weil ich alle anderen in meinem Umfeld für wertvoller hielt. Die Spuren auf meiner Winterlandschaft verhinderten offensichtlich eine optimale Entfaltung meines Selbstbewusstseins. So musste ich dreissig Jahre alt werden, bis sich dieses Defizit relativierte. Da habe ich nämlich unter anderem gemerkt, dass es Männer gibt, die dümmer sind als ich. Sie lachen, aber bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich keine entsprechenden Erfahrungen machen. Ich hatte keine Brüder, war nie in einer geschlechtergemischten Schule und mein Vater war für mich sowieso der Gescheiteste. Also ging ich davon aus, dass Männer von Natur aus intelligenter sind als Frauen. Aber die Erkenntnis, dass es Männer gibt, die intellektuell schwächer sind als wir, war für mich matchentscheidend. Es kam mir vor, wie ein Befreiungsschlag. Plötzlich konnte ich reflektieren, das Spurenlegen auf meiner Schneedecke musste ich nicht mehr andern überlassen und bin dem, was ich bin einwenig näher gekommen.
Fertig ist mein Schneebild noch lange nicht und es bleibt mir nur, dran zu bleiben. Ich möchte nämlich wirklich „Sein was ich bin und geben was ich habe!“ Und das Gleiche auch anderen zugestehen.
Mit einem Gedicht von Andreas Kohlschütter komme ich zum Schluss von meinen Gedanken zur heutigen Thematik.
UNTERWEGS
Warum muss ich denn reisen,
Wo sich doch alles in mir
Nach der Umkehr sehnt?
Wozu Distanzen queren,
Wo doch von allem Anfang
Die Rückkehr mein Ziel?
Was such ich auf dieser Welt,
Wenn ich Heimkehr nicht finde
Zu dir und zu mir?
[Aus: Andreas Kohlschütter, Unter dem Buntlaub beginnt das Warten, 2010. © Verlag Martin Wallimann – mit freundlicher Genehmigung des Verlages.]