Schwerte, 24.05.2013
Sehr geehrte Gäste!
Ich sehe eine bunte Schar von Frauen, die laut lachen, singen
und rufen: Her mit dem guten Leben.
Anteil wollen wir haben an den Gütern dieser Erde, Zugang
bekommen zu Bildung, Arbeit und einem Leben in Frieden.
Volle Teilgabe muss die Ausrichtung jeder kirchlichen Arbeit
wie überhaupt des gesellschaftlichen Bestrebens sein, da
keiner das Recht hat, hier zuzuteilen, dort zuzusprechen.
Ich sehe auch eine bunte Schar von Frauen und Männern,
Kindern und Alten, mit oder ohne Behinderungen, die
einander unterrichten oder pflegen, die sich in Cafés begleiten
und ihre Gesichter der Sonne entgegenhalten, die Gärten
pflanzen, Schokoladenlädchen eröffnen oder
Leitungsverantwortung übernehmen – und sich in einer
Haltung des Komparativs bewegen: Immer ein Stück mehr
versuchen, jeden Tag ein bisschen besser Anteil geben oder
Anteil nehmen.
Wie komme ich zu dieser Vision, dieser auf Teilen
ausgerichteten Lebenshaltung und werde auch nicht müde,
mich nach ihr auszustrecken?
Durch die Wurzeln, die Tradition – also
eigentlich bin ich von gestern…
Gestern – als Rosa Luxemburg für das Wahlrecht von Frauen
kämpfte und hineinspazierte durch die Türen derer, die den
politischen Einfluss für sich allein in Anspruch nahmen.
Sie reichte diese Errungenschaft weiter an die Frauen der
nachfolgenden Generation und schließlich an mich. Ihr
Geschenk an mich: Wählen gehen und Wahlmöglichkeiten
eröffnen.
Ihr Geschenk an mich: „Es ist und bleibt, wie Lasalle sagte,
die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.“ Sie
hat es gewagt unter gesellschaftlichen und politischen
Bedingungen, die ja geprägt waren vom Kaiserreich, ihre
Stimme zu erheben und Dinge auszusprechen, mit denen sie
aneckte und die ihr Widersacher einbrachte.
Das ist gutes Leben: sich Raum nehmen und Raum haben für
das offene Wort
Eigentlich bin ich von gestern…
Gestern – als Dorothee Sölle, die Poetin und Theologin sich
auf den Weg machte, Spiritualität und politische
Verantwortung zu verbinden, Frömmigkeit zu leben und das
Nein zu Ungerechtigkeit in allen ihren Facetten laut werden zu
lassen.
Ihr Geschenk an mich: Poesie und der aufrechte Gang, Mystik
und Widerstand. Sie stärkt mich darin, der Spur der Sehnsucht
zu folgen, Brot zu teilen im materiellen und im spirituellen
Sinne, die Schönheit der Menschen zu lieben.
Ihr Geschenk an mich: Das gute Leben findet sich auch in
dem, was still bleibt, in einem Gedicht, in deinem Blick in ein
Angesicht, im Bleiben und im Widerstand.
In diesem Geist lasse ich mich nicht abbringen von einem
Weg, auf dem ich verlerne, in Schubladen zu denken von
politisch oder fromm, von modern oder traditionell, von
richtig oder falsch. Die Würde und die volle Teilhabe von
Kindern, Frauen und Männern, von Müttern oder Vätern in
ihren speziellen Lebenslagen, von Alten und Pflegenden zu
erwirken und sie jeweils in die Mitte einzuladen oder sich von
ihnen in ihre Mitte einladen zu lassen. Die Mitte am Rand
vermuten – wie oft meinen wir in kirchlichen Welten zu
wissen, wo der Rand ist und wer da lebt und wo die Mitte ist,
und wer sie aufsuchen soll.
Gestern – als meine Mutter ohne das Wissen meines Vaters,
heimlich, mutig und auch ein bisschen trotzig, den
Führerschein machte. Nach seiner Auffassung sollte seine
Frau keinen Führerschein haben. Sie nahm sich dieses Stück
Freiheit gegen alle Konventionen und schaffte Fakten, hinter
die auch mein Vater dann nicht mehr zurück konnte. Und
irgendwann wusste er es auch zu genießen.
Wie selbstverständlich es für ihn wurde, dass seine Töchter
das Abitur machen – vielleicht lag es auch mit dieser freien
Tat.
Ihr Geschenk an mich: mutig neue Wege gehen und Rollen,
die andere einem zuschreiben, verweigern.
Und sein Geschenk an mich: volle Unterstützung zu erfahren
in allen meinen Entscheidungen.
Das gute Leben ist das Eintreten für den eigenen Weg.
Also, liebe Gäste, verehrte Frauen, gestern ist auch heute und
ist lebendig in mir. Im Gestern liegen die Wurzeln, die
Geschichten. Die Stühle, auf denen ich sitze, haben andere
gezimmert, viele Frauen, viele Männer. Dafür bin ich sehr
dankbar.
So sehe ich mich heute in einer gewissen Haltung der
Selbstverständlichkeit, weiterzugeben und zu ermöglichen, an
meine Töchter und andere, was mir gegeben und ermöglicht
wurde.
Insofern erzählt dieser Slogan „Her mit dem guten Leben“ von
einer fortschreitenden Ermöglichung der vollen Teilhabe für
alle.
Nicht einfach, hier ein Oben und Unten zu vermeiden.
Diejenigen, denen die Kirche das gute Leben ermöglichen
muss, Schwellen abbauen und Zugänge schaffen, sind nicht
Objekte eines barmherzigen Handelns, sondern Subjekte auf
einem gemeinsamen Weg. Sie haben alles Recht zum freien Ja
oder Nein, zu Nähe oder Distanz, auch zu Beheimatung oder
Fremdheit.
Und selbst das ist nicht einfach auszusprechen, weil wir uns
lange über die Bedingungen von Freiheit unterhalten müssen,
über Zustände, Moral oder Angst, die sie verhindern.
Her mit dem guten Leben, steht für eine Wolke von Zeugen
und Zeuginnen, die sich wie heute Abend zusammenfindet und
damit Wort und Tat der vollen Teilhabe verdichtet.
Unsere Worte werden begleitet durch das schöne Essen, das
Getränk und das wunderbare Ambiente hier in der
Rohrmeisterei.
Lachen und erzählen und sich gegenseitig stärken in der
Haltung, dass alles, was zum Leben zur Verfügung steht an
Wohnung, Nahrung, Arbeit, Kultur und Gebet allen
zugänglich gemacht werden muss. Dafür stehe ich.
Für Menschen mit Behinderungen, für Menschen, die unserer
Mitte alt geworden sind, für Menschen, denen die Kirche
fremd geworden ist – so lauten die Leitgedanken der
Kampagne des „Barrierefreien Kirchenkreises“.
Dass alles, was einer anderen fehlt an Unterstützung
und finanziellen Mittel, beschafft
oder gemeinsam erarbeitet werden muss.
Irgendwann kommt dann der Tag, an dem der entscheidende
Schritt immer von mir selber getan werden muss, im Kleinen
oder Großen. Der entscheidende Schritt nach einer
Gelegenheit zu greifen, die das gute Leben, wie es als
Sehnsucht in mir lebt, zu gestalten und alle Mühen dabei auf
mich zu nehmen.
– wie damals in Italien [1], wovon ich zum Schluss erzählen
möchte.
Die Mittagsruhe flimmert durch das italienische Städtchen.
Die Stille trägt die Farbe grau-grün-blau. Es ist Fastenzeit für
die Christen, was die Stille allein durch dieses Wissen
verstärkt.
Da geht in einem Haus die Tür auf, ein buntes Schild wird
herausgestellt. Chocolaterie steht darauf. Die Frau lacht ihrer
Tochter zu, die hinter ihr herhüpft. Heute beginnt das neue
Leben, auf das beide so lange verzichten mussten und keiner
würde sie daran hindern. Das Rollo wird hochgezogen und die
köstlichen Pralinees – von denen Sie später eine genießen
dürfen [2] – werden sichtbar, verführerisch.
Die Frau ist schön. Juliette Binoche spielt sie in dem Film
„Chocalat“. Sie verkörpert das lebendige Leben einer Frau, die
nach dem Leben greift, ihrem Leben, das voll sein soll mit
Schönheit und dem, was sie selber liebt. Es wird auch ein
beschwerlicher Weg. Sie zieht damit Unmut auf sich und die
Dinge nehmen ihren Lauf, bis irgendwann der Bürgermeister,
der in ihr die Verkörperung des Bösen sah, eines Morgens im
Schaufenster liegt, weil er der Verführung zum Leben nicht
länger widerstehen konnte.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] Der Film „Chocolat“ spielt eigentlich in Südfrankreich. Für die kurze Szene, die ich hier erzähle, schien mir aber Italien als Bild eindrücklicher.
[2] Eine Praline ist als Nachtisch vorgesehen.