Naciye Kamcili-Yildiz – Lehrerin und islamische Religionspädagogin

Dortmund, 22.02.2013

Toleranz im Islam

Seit den Anschlägen des 11. September wird man immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob und wie die beiden Begriffe „Islam und Toleranz“ zueinander passen. Der Islamwissenschaftler Richard Gramlich, der in seinem Artikel „Toleranz im Islam“ dieser Frage nachgeht, kommt zu dem Ergebnis, dass es außerhalb Europas »keinen autochthonen Begriff der Toleranz.“ gebe und sagt weiter: “Wie drückt man Toleranz im Persischen und Arabischen aus? Der Begriff in dieser Form existiert dort nicht; er wurde bei uns geschaffen.“ (Gramlich, Richard: Rottendorf-Symposion. „Die Toleranz im Islam“, in: Wie tolerant ist der Islam? hrsg. v. Walter Kerber, München 1991 (79-140), S. 79.)

Richard Gramlich hat nicht ganz Unrecht. Fakt ist, dass auf den lateinischen Ausdruck ›tolerare‹, zurückgehende Begriff Toleranz übersetzt wird mit „ertragen, erdulden, aushalten“ und auf Resultaten der europäischen Aufklärung, der auf einer rein säkularistischen Philosophie beruht, die alles mit der Autorität der Vernunft zu lösen bemüht ist. Damit ist der Begriff „Toleranz“ tatsächlich ein europäisches Produkt und auf den orientalischen Raum nicht übertragbar, da dieser nämlich seine eigenen Toleranzdefinitionen und –traditionen hat, die noch weiter als zur Zeit der Aufklärung zurückreichen.

Um zunächst bei den Begriffen für Toleranz zu bleiben: Im Persischen kennt man „Bordbari, Tahammol, Ravadari und Mosamehe“. Im Arabischen „Tasamoh und Tasahol“ und im Türkischen „Hoşgörü, Müsamaha und Tahammül“, die in politischen, religiösen und sozialen Kontexten gebraucht werden.

Fragt man Muslime nach dem Zusammenhang zwischen Islam und Toleranz, bekommt man oft die Textstelle 2/256: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ zitiert. Stellt man dann die nächste Frage, warum dann z.B. ein saudischer Gelehrter die Zerstörung aller christlichen Kirchen in Saudi-Arabien angeordnet hatte, wird man schwer eine Antwort bekommen. Es ist einfach von Toleranz zu sprechen, aber tolerant im Alltag zu Leben, gestaltet sich doch umso schwieriger, wenn man dem Anderen ein gleichberechtigtes Existenzrecht zugestehen soll.

Wenn man den Koran als die für Muslime grundlegende Offenbarung auf Textstellen zur Toleranz hin untersucht, wird man auch auf diesen Vers stoßen: „Und wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht.“ Dieser Vers wird von vielen zeitgenössischen Korankommentatoren als die Bürgschaft der Religionsfreiheit im Islam verstanden, dass der göttliche Wille auf die Wahl des Menschen, die er durch seinen freien Willen bevorzugt, Wert legt und die religiöse Verantwortung bei Individuum ist .

Auch wenn der Koran an vielen Stellen über Gewalt spricht und in besonderen Situationen, wie z.B. bei einem Angriff die Gewaltanwendung zum Schutz des Lebens im Abwehrkrieg legitimiert, plädiert der Koran für das Nebeneinander der Religionen und verbietet die Missionierung der Juden und Christen, die als Schriftbesitzer bezeichnet werden. Damit stellt der Koran im Judentum und Christentum die Ausrichtung auf den einen Gott in den Mittelpunkt und fordert den respektvollen Umgang mit diesen beiden Religionen. Deshalb hat der Koran mit ihnen weniger Probleme als mit den Polytheisten in Mekka, deren Vielgötterei er vehement ablehnt und ihr Gottesbild kritisch betrachtet.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Islam ausgehend von dem Glauben an einen Gott andere Zugänge anerkennt und zum respektvollen Umgang miteinander auffordert, womit wir dann wieder bei europäischen Aufklärern wie Lessing wären, der mit seiner Ringparabel allen drei monotheistischen Religionen einen Wahrheitsanspruch zugesteht.

Geht man in die islamische Geschichte zurück und nach Begegnungen zwischen Muslimen und Christen sucht, landet man zunächst in Äthiopien. Als in der Anfangszeit des Islam die Muslime in Mekka bedroht wurden, wanderten Muslime nach Abessinien aus, wo ein gerechter christlicher Herrscher regierte und in den Worten der Muslime den Glauben an den einzigen Gott erkannte und sie unter seinen Schutz stellte.

So ist es nicht verwunderlich, dass die in der weiteren islamischen Geschichte ursprünglich christlichen Herrschaftsgebiete des Osmanischen Reiches auch nach der Eroberung christlich blieben. Wie könnte man sich sonst erklären, dass es in Südosteuropa mehr Christen zu finden sind als Muslime? Fakt ist auch, dass die Juden, die der Inquisition in Spanien entkommen konnten, Zuflucht in Istanbul fanden und im osmanischen Herrschaftsapparat auch führende Positionen eingenommen

haben. Selbst die Mütter vieler Sultane waren Christinnen, die ursprünglich als Konkubinen in den Harem kamen und später zur Sultansmutter und zur mächtigsten Frau im osmanischen Reich aufstiegen. Manch einer kennt vielleicht auch die Geschichte der ukrainischen Roxelane, die sogar als Sultansfrau zur kompetenten Beraterin des Sultans Süleyman dem Prächtigen wurde, des Herrschers, der in Europa am meisten gefürchtet war.

Nun könnte entgegnet werden, dass die Toleranz zwar in der Geschichte groß geschrieben und gelebt wurde, aber man heutzutage in vielen Ländern vom Islam nicht unbedingt das Bild einer toleranten Religion bekommt. Dem ist in vielerlei Hinsicht zuzustimmen.

Thomas Bauer, ein Islamwissenschaftler aus Münster, der mit seinem Buch „die Kultur der Ambiguität- eine andere Geschichte des Islams“ mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde, vertritt die These, dass die islamische Kultur in ihrer Entstehungsphase eine hohe Ambiguitätstoleranz aufwies. Diese Ambiguitätstoleranz habe der Islam im Laufe der Geschichte verloren und es herrsche heute die Meinung, dass nur eine einzige Lesart die Richtige sei- ganz im Gegensatz zur Europa und der christlichen Geschichte, die immer toleranter und pluralistischer wurde. Die Gründe hierfür zu erläutern würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen.

Festzuhalten bleibt zum Schluss von meiner Seite, dass in vielen sogenannten muslimischen Ländern die Intoleranz nicht nur gegenüber den Mitgliedern anderer Religionen herrscht, sondern auch gegenüber Muslime, die den Islam anders lesen und leben. Deshalb sind nach Ansicht vieler Fundamentalisten nicht nur Nicht-Muslime Ungläubige, sondern auch Muslime, die den Koran vielschichtiger verstehen und pluralistischer leben.

Damit sitzen wir alle wieder in einem Boot. Diese Intoleranz ist und bleibt ein großes Problem für das friedliche Leben der Menschen in einer immer kleiner werden Welt und immer bunter werdenden Gesellschaft. Auch wenn man die Intoleranz nie auslöschen kann und wird, ist der Dialog und das offene Gespräch immer noch der einzige und der beste Weg, das Verständnis der unterschiedlichen Religionen und Kulturen füreinander zu fördern.

Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen!

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