Nigar Yardim – Muslimische Theologin und Erziehungswissenschaftlerin

Tischrede von Nigar Yardim, Muslimische Theologin und Erziehungswissenschaftlerin aus Duisburg, Mitglied der Islamkonferenz beim 3. Oldenburger Frauenmahl am 28. Oktober 2016 im Lambertus-Saal der St. Lamberti-Kirche
 
Liebe Frauen, liebe Mitstreiterinnen, as salamu alaikum, Shalom und Friede sei mit Ihnen.
 
Herzlichen Dank für die Einladung zum heutigen Frauenmahl, ich habe die Ehre, zum zweiten Mal eine Tischrede bei einem Frauenmahl halten zu dürfen.
 
Weiblich frei frech fromm
 
Diese Worte lese ich auf der Internetseite des Frauenreferats des Evangelischen Kirchenkreises Krefeld-Viersen. Dort arbeitet auch meine Freundin Kathrin.
Weiblich, frei, frech und fromm – so definieren sich die evangelischen Frauen in Krefeld und anderswo und so und nicht anders erlebe ich sie.
 
Frei nach dem Prinzip „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn“ oder wie es Ghazali ausgedrückt hat: „Der Schlüssel zur Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis.“ (Abu Hamid al-Ghazâlî, 1058-1112) Aber zunächst zu mir: Ich spreche zu Ihnen als Muslima, die in ihrer Kindheit von einem belesenen Hoca-Vater sehr knappe Informationen über das Christentum und die Christen erhalten hat, und diese durch zahlreiche Begegnungen, Gespräche und gemeinsame Aktionen mit evangelischen und katholischen Christinnen und Christen ergänzen und zum Teil revidieren durfte.
Bereits meine Mutter berichtete, dass ihr Wissen über christliche Menschen – bevor sie jemals einem von ihnen begegnet sei – darin bestünde, dass man Christen nur durch ihr Handeln erkennen könne, vom Äußeren aber nicht. Mein Vater ergänzte: „Die frommen Frauen unter ihnen tragen ein Kreuz oder sie lassen ihre Haare nicht besonders lang wachsen“.
 
Heute kann ich mit Gewissheit sagen: Die Lebens- und Glaubenserfahrungen von Männern und Frauen aus christlichen Kontexten haben mein Leben bereichert. Sie haben mir geholfen, aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln auf ein und dieselbe Sache zu schauen, mich kritisch damit auseinanderzusetzen oder sie auch zu hinterfragen. Eine solche Herangehensweise führt mir vor Augen, wie oft ich althergebrachte Muster, die mitunter frauendiskriminierend oder menschenverachtend sein können, unhinterfragt angenommen habe.
Ich habe erfahren, dass gelebte Religiosität auf sehr unterschiedliche Art zur Geltung kommen kann.
Wenn mich ein bekennender Atheist nach einem terroristischen Anschlag anruft und sagt, dass er mit mir fühlt und genau weiß, dass ein solcher Akt mit der Religion nicht gerechtfertigt werden kann – oder wenn mich eine Pfarrerin an mein Gebet erinnert und sagt, die Tagungsteilnehmer können sicherlich noch ein paar Minuten auf mein Referat warten – sehe ich darin eine echte Menschenliebe, die ich bei so manchen vermeintlichen FROMMEN vermisse.
Authentisch und konsequent lebende glaubende Menschen – solche habe ich kennengelernt und sie haben mich bereichert. Authentizität und konsequentes Leben gehören meines Erachtens zu den großen Herausforderungen unserer Zeit.
 
Schon Mevlana Dschelaleddin Rumi schrieb: Zeige dich, wie du bist oder sei, wie du dich zeigst. [1]
Authentisch sein heißt: echt sein – das wirklich zu sein, was man zu sein vorgibt, eine Übereinstimmung von Sein und Schein.
 
Mit diesem Anspruch schaue ich mir die Zukunft unserer Religionen an. Und sehe: Kirchen werden geschlossen, weil kein Geld mehr da ist, viele Stellen werden gestrichen und hiervon sind insbesondere Frauen betroffen, weil Kürzungen angesagt sind. In Moscheen sieht es ähnlich aus.
Noch gibt es Verlass auf eine „reiche“ Mitgliedschaft und Ehrenamt, aber bereits jetzt gibt es Anzeichen dafür, dass dies nicht immer so bleiben wird. Und wenn dann gekürzt werden muss, sind es soziale Bereiche, in denen oft Frauen tätig sind.
 
Wir wissen ja: Geld regiert die Welt – aber es sollte nicht die Kirche regieren und die Moschee selbstverständlich auch nicht. Wir glaubende Menschen beanspruchen, dass wir uns u.a. durch den Dienst am Menschen auszeichnen. Ist es nicht unsere Besonderheit, dass wir uns den Themen und den Menschen widmen, die vernachlässigt werden?
 
Dieser Dienst ist in Zahlen nicht messbar – im günstigen Falle gibt es dafür einen Lohn bei Gott. Und etwas, was nicht messbar ist, kann leicht in Vergessenheit geraten – kann leicht gestrichen werden.
Wie können wir mit diesen Ansprüchen dennoch zu einem gerechteren Miteinander auch angesichts der Globalisierung beitragen? Denn gerade die wirtschaftliche Globalisierung erzeugt bei vielen Menschen Unsicherheit, wenn nicht Hoffnungslosigkeit. Wohlstand sollte sie bringen, aber viele Aspekte der Globalisierung bringen vielen Menschen Leid und Elend.
 
Und genau an dieser Stelle waren und sind wir gefragt. Wir müssen mit einem kritischen Blick auf die Finanzmärkte schauen und darauf aufmerksam machen, was innerhalb der Globalisierungsprozesse schief läuft.
Aus unserer Verantwortung heraus können wir dazu beitragen, Benachteiligte in der Welt wahrzunehmen und Wege und Möglichkeiten suchen und finden, diese Benachteiligung zu beheben.
Denn dort, wo Glauben sich im Handeln ausdrückt, gewinnt der Glaube an Glaubwürdigkeit.
Die von mir bei Christen und Muslimen bewunderte Kraftquelle der Frohbotschaft möchte ich nämlich nicht missen. Es ist unsere Aufgabe, bei all den rasanten Veränderungen den Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren – vielmehr ihn in den Fokus zu stellen.
 
Dies ist eine gemeinsame Aufgabe von Christen und Muslimen.
Während christliche Kirchen auf fest etablierte Strukturen vertrauen und ihre Aufgaben im Rahmen dieser Strukturen zu bewältigen versuchen, streben muslimische Organisationen genau jene Etablierung an. Bei den Bemühungen, in den „Genuss“ anerkannter Religionsgemeinschaften zu kommen, dürfen aber auch sie den Dienst an den Menschen nicht aus dem Blick verlieren.
 
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen bereichernde Gespräche an den Tischen.
 
Nigar Yardim

 


[1] Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207-1273) zählt zu den bedeutendsten Dichtern des Mittelalters aus dem persischsprachigen Raum.

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