OKRin a.D. Cornelia Coenen-Marx – Pastorin und Autorin, Geschäftsführerin der Agentur „Seele und Sorge“, Garbsen-Osterwald

4. Oldenburger Frauenmahl
8. November 2019, 18.00 Uhr bis 22.00 Uhr
in der St. Lamberti-Kirche, Markt 17, 26122 Oldenburg

Tischrede von OKRin a.D. Cornelia Coenen-Marx, Pastorin und Autorin,
Geschäftsführerin der Agentur „Seele und Sorge“, Garbsen-Osterwald

„Wir sind viele“
Vielfalt als Herausforderung und Chance für Kirche und Gesellschaft

„Ob ich fromm bin? Nein, ich bin normal.“ Diese Antwort aus einer Umfrage zur Kirchenmitgliedschaft im Osten Deutschlands ist immer wieder zitiert worden. Für die Kirche im Westen war das eine echte Irritation. Dabei wusste man doch längst: Es gibt ganze Landstriche in Deutschland, wo es schon lange nicht mehr normal ist, zur Kirche zu gehören. Und es ist zu erwarten, dass das schon bald für ganz Deutschland gilt. Das treibt viele um – nicht nur aus finanziellen oder aus machtpolitischen Gründen. Es verunsichert, wenn man plötzlich zur Minderheit wird. Es ist so viel einfacher, Teil des Mainstreams zu sein. Normal eben.

Die Erosion der alten Institutionen – der Kirchen, Gewerkschaften, Parteien – der Zerfall der alten Milieus, zerfleddert auch das gewohnte WIR. Vor einigen Monaten hat Sigmar Gabriel einen Artikel im Spiegel geschrieben, in dem er den Verlust der Binderkraft in der SPD beklagte. Die Partei habe sich zu wenig um die Alltagsprobleme der ganz normalen Leute gekümmert, meinte er. Stattdessen beschäftige man sich mit den Problemen von Minderheiten: Migranten, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle. Gabriel ist nicht der einzige, der die ganz normalen Leute beschwört, die jeden morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen und abends ihren Kindern vorlesen. Aber diese ritualisierte Beschwörung der Mitte läuft offenbar ins Leere – nicht nur bei der SPD. Denn die Verschiedenheit ist Normalität geworden. Auch bei den ganz normalen Leuten. Unterschiedliche Arbeitszeitmodelle, Familienkonstellationen und Geschlechterrollen, unterschiedliches Herkommen, religiöse Überzeugungen … Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von der Gesellschaft der Singularitäten.

„Es ist normal, verschieden zu sein“ – das war der Titel der Inklusionsschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, die 2014 erschienen ist. Der Titel zitiert Richard von Weizsäcker. Er nimmt den Wunsch nach Normalisierung auf, der Menschen mit Behinderung schon lange beschäftigt: In einem ganz normalen Haus wohnen, mitten im Quartier – nicht am Rande der Stadt im Heim. Auf eine normale Schule gehen und eine Ausbildung machen wie andere auch. Das eigene Leben gestalten. Eine Aufgabe haben und mitreden können. Dabei zeigt sich: Normalität heißt eben nicht, dass alle gleich sind. Manche brauchen Hilfe im Haushalt, andere bei der Pflege. Wieder andere brauchen Dolmetscher. Dass wir auf andere angewiesen sind, ist eben auch normal. Auch wenn wir das zu bestimmten Zeiten vergessen. Weil es uns peinlich ist. Neulich erzählte mir jemand, dass all die praktischen Haushaltshilfen für Ältere nicht in die normalen Kataloge der Küchen- und Sanitätshäuser aufgenommen werden, weil sie normale Leute angeblich nicht betreffen. So werden unversehens ganze Gruppen aus der Normalität ausgegrenzt.

Tatsächlich gehört auch das zu unserer Tradition – mit furchtbaren Auswirkungen im Dritten Reich. Klaus Dörner, Psychiater aus Gütersloh, hat sich ein ganzes Berufsleben lang dafür eingesetzt, dass diese Exklusion überwunden wird – zunächst engagierte er sich für die Auflösung der Heime in Behindertenhilfe und Psychiatrie, dann für die Öffnung der Altenhilfe. “Ich will leben und sterben, wo ich dazu gehöre“ sagt er und hat vielen die Augen geöffnet. Keiner soll Angst haben müssen, alle Kontakte zu verlieren, nur weil er pflegebedürftig wird. Es muss Schluss sein mit der Einteilung der Menschen in Hilfebedürftige und Helfer. Schluss auch mit der Einteilung in normale Gemeindemitglieder und Klienten der Diakonie. Denn tatsächlich haben wir als Kirche zur Exklusion beigetragen.

Nicht nur Pflegebedürftige, psychisch Kranke, Menschen mit Behinderung wurden ausgegrenzt – lange Zeit traf das Arbeitslose, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Paare. Ich werde die Aufregung über das Familienpapier der EKD 2013 mit seinem weiten Familienbegriff nicht vergessen: Viele hatten das Gefühl, das sei ein Angriff auf die traditionelle Familie. Auf ihr eigenes Lebensmodell.

Ich habe das nie verstanden. Ich finde es spannend, andere Lebensgeschichten zu hören – zu sehen, wie Menschen ihr Leben meistern, zu verstehen, woran sie scheitern. Wenn wir uns wechselseitig davon erzählen, können wir voneinander lernen. Wir können uns einfühlen, über unsere Grenzen gehen, unsere eigenen Grenzen wahrnehmen. Allerdings braucht es Offenheit. Unter dem Druck des Alltags ist das eine echte Herausforderung. Wir wollen unser Leben im Griff behalten, funktionieren, mitschwimmen mit dem Mainstream. Wir passen uns an. Und auch das gehört zur Wahrheit: Der Anpassungsdruck war auch in Kirche und Diakonie lange sehr groß. In der Mitarbeiterschaft, in den Schwesternschaften galt: Wer kritisch war oder nicht gesund, wer eine andere Herkunft hatte, hatte es schwer. Auch Frauen im Pfarramt, Männer in Pflegeberufen. Gott sei Dank haben wir inzwischen gelernt und lernen noch: in integrativen Schulen und Kindergärten, in Quartierscafés und interkulturellen Projekten.

„Wir sind ein buntes Völkchen: Die einen müssen liegen, einige dürfen sitzen, andere sind so nicht behindert, dass sie andere Leute schieben. Nichts davon wollen wir vertuschen. Und dennoch: nicht als Behinderte und Nichtbehinderte sind wir beisammen, sondern als Gemeinde des dreieinigen Gottes.“ Diese Sätze stammen von dem Theologen Ulrich Bach, der nach einer schweren Polio-Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen war. Für mich fasst er zusammen, worauf es ankommt: Ob wir behindert oder nichtbehindert sind, Deutsche Ost oder West, mit oder ohne Migrationshintergrund: Jede und jede hat ihre eigene Würde.

Es geht darum, das eigene Leben zu lieben, ohne andere klein zu machen. Neugierig zu bleiben auf das, was andere einzubringen haben. Zu unserer eigenen Wahrheit zu stehen, ohne Angst vor Widerspruch. Wir müssen uns herauswagen aus der selbstverständlichen Sicherheit der Normalität, das Schubladendenken überwinden, uns einlassen auf die gemeinsame Suche nach dem Wir. Wo wir uns füreinander öffnen, entsteht es, das WIR, nach dem wir uns so sehnen. Ein Abend wie heute bietet die große Chance, das zu erleben. Es braucht nur einen gedeckten Tisch und offene Gespräche. Tischgemeinschaft: ein schönes Ritual. Erzählen, zuhören und neue Fäden knüpfen.

Cornelia Coenen-Marx, www.seele-und-sorge.de

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