PD. Dr. Cordula Weißköppel – Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin

Tischrede von PD Dr. Cordula Weißköppel, Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin, z. Zt. Vertretungsprofessur am Institut für Ethnologie und Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Akademische Rätin am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft, Universität Bremen
beim 3. Oldenburger Frauenmahl am 28. Oktober 2016 im Lambertus-Saal der St. Lamberti-Kirche. 

Die Nä-hsten lieben

Der Haller Theologe Axel Noack formuliert in einem der PR-Magazine zum kommenden Luther-Jahr: „(Luthers) neidisch machendes Gottvertrauen, das Wissen darum, dass er bei Gott geborgen und letztlich gut aufgehoben ist, macht ihn frei, sich für die Welt, für die Mitmenschen und die ganze Gesellschaft zu engagieren. …“ [1]
 
Sich für die Welt, für die Mitmenschen und die ganze Gesellschaft zu engagieren – das beschäftigt zur Zeit viele deutsche BürgerInnen, die u.a. Geflüchtete, d.h. Fremde in unseren Gemeinden willkommen heißen, sie bei Behördengängen begleiten, sich als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache betätigen oder den Wohnungsmarkt im Internet abgrasen, um erste Bleiben für die Zugewanderten in ihrer Notsituation zu finden. Gleichzeitig werden Stimmen laut, dass die staatliche und ehrenamtliche Unterstützung dieser Menschen das Maß überschreite, neue Ungerechtigkeiten zwischen Einheimischen und Zuwanderern provoziere, insbesondere mit dem Argument, weil die Förderung tendenziell schlechter Gestellter in der deutschen Gesellschaft zu kurz komme.
Es geht um die Potenziale des Wohlfahrtsstaats und die Verteilung öffentlicher Ressourcen, wer über sie bestimmen und wie genau die „Liebe zum Nächsten“ organisiert werden darf.
Aus der Feministischen Bewegung sowie aus den internationalen Movements der „people of colour“ haben wir seit Martin Luther King bis bell hooks (eine schwarze Feministin) Anregungen erhalten, dass an den Privilegien der Macht-Habenden nur gerüttelt werden kann, indem man Bünde schließt, sich vernetzt und solidarisiert, und neben den politisch-strukturellen Forderungen Räume des Eigenen etabliert, wo die spezifischen Interessen artikuliert werden. In anti-rassistischen Ansätzen wurde zudem die Forderung nach „Critical Whiteness“ [2] laut:
„Whiteness“, also Weißsein steht hier symbolisch für das Selbstverständliche, für die Gewissheit, zu den Oberen und Etablierten zu gehören, für die Identifikation mit den Zentren der Macht, d.h. auch mit westlichen Institutionen wie unabhängige Rechtssprechung, Demokratisierung und Bildung, aber auch für garantierte Werte wie Sicherheit, Gesundheit und möglichst lebenslangen Wohlstand. Diese Zugehörigkeit zum „Weißsein“ verhält sich relativ zu anderen Identifikationen, und muss natürlich kontextuell und individuell bestimmt werden, aber sie fordert uns auch heraus, kritisch über die Position des „Weißsein“ zu reflektieren: Worin bestehen eigene Privilegien? Welche verteidige ich vehement?
Welche bin ich bereit abzutreten oder wo bin ich für Verhandlungen offen?
Muss ich unter Umständen erkennen, dass meine Haltung, Anderen zu helfen, ein Privileg ist, weil ich jenseits von Erwerbsarbeit und sozialen Verpflichtungen überhaupt das hohe Gut „Zeit“ zur Verfügung habe? Verfolge ich mit meinem Tun auch individuelle Motive etwa nach beruflicher Fortbildung bzw. Neuorientierung?
Für wen oder was engagiere ich mich wirklich freien Willens und mit „Herzenslust“ [3] ?
Eine etwas nüchterne Betrachtung unseres engagierten Handelns kommt da zu folgender Bilanz:
Solidarisierung und Einsatzbereitschaft in unserer Gesellschaft konzentriert sich tatsächlich oftmals auf die nä-h-sten Nächsten: Wo schicke ich mein Kind zur Schule, im nahe gelegenen multikulturellen Stadtteil mit den entsprechenden Problemlagen und eventuellen Bildungsnachteilen für den eigenen Nachwuchs? Oder organisiert man über die Elternschaft eher einen privaten Bus-Shuttle quer durch die Stadt zum gut bürgerlichen Gymnasium, wo die Welt noch in Ordnung ist?
Ein weiteres Beispiel aus der Gewerkschaftsszene verdeutlicht ebenfalls, worum es mir geht: Wenn Lokführer oder PilotInnen streiken und verhandlungsstark ihre Interessen zur Lohnsteigerung artikulieren, wer fragt dabei nach den Reinigungskräften, oftmals Menschen mit Migrationshintergrund, die die Wartesääle in den Bahnhöfen und die Toiletten in den Zügen putzen?
Oder warum werden Qualifikationen von ausländischen Ärztinnen und Ärzten nicht großzügig von den inländischen Zulassungsstellen anerkannt?
In der komplexen Moderne haben wir es entsprechend also auch mit komplexen, d.h. partikularen Solidarisierungsformen zu tun: das Gebot „Liebe deinen Nächsten“ fokussiert oftmals doch die, die uns am nähsten sind, sei es familiär, sei es in spezifischen Berufs- oder Tarifgruppen oder in Interessensvertretungen der Politik und Wirtschaft.
Wie kann man diese zirkulierenden Prozesse der potenziellen Reproduktion von Privilegien durchbrechen, wenn Solidarisierung zu Lobbyismus gerät?
Wie kann die sich wandelnde Gruppe der marginalen, der verletzlichen „Nächsten“ durch faire, aber auch durch mutig, beherzte Kriterien immer wieder neu bestimmt werden, so dass unsere hoch differenzierte Gesellschaft wirklich durchlässig für Neue-s wird?
Auch dazu haben wir in der eigenen Geschichte Anhaltspunkte:
Die Vision eines egalitäreren Bildungssystems wurde in der DDR konsequent verfolgt, indem Arbeiterkindern bei Eignung ein Studienplatz an einer Universität garantiert wurde;
in fast allen öffentlichen Einrichtungen unseres Staates trägt die Durchsetzung von Frauen-Quoten aktuell dazu bei, auf eine geschlechtergerechte Stellenvergabe hinzuwirken und Frauen in ihren Karrierewegen zu unterstützen;
die Einrichtung eines Solidarfonds nach der „Wende“ für die Strukturförderung der ostdeutschen Bundesländer zeigt ihre Wirkung, indem zum Beispiel das Hochschulwesen und der öffentliche Kulturbetrieb Fahrt aufgenommen hat und ganz eigene Profile entwickelt;
oder die laufende Debatte um das Postulat „Mindestlohn“ und erste Versuche der Umsetzung, um annähernd gleiche Bedingungen für ganz unterschiedliche Lebensentwürfe von Menschen in unserer Gesellschaft zu schaffen.
Diese Liste an Beispielen zeigt, dass es lohnt, sich für nahe & ferne Menschen einzusetzen, und somit auf sehr unterschiedliche Weise die „ganze“, heutzutage also die globale Gesellschaft zu gestalten. Vor diesem Hintergrund wünsche ich uns allen einen anregenden Appetit, weiterhin öffentlich und kreativ darüber nachzudenken, wie wir in Deutschland für zugewanderte Frauen und Männer aus Krisenregionen dieser Welt eine besondere Unterstützung und sinnvolle Begleitung realisieren können: Schritt für Schritt, oder in Analogie zum heutigen Abend, Gang für Gang.
 
PD Dr. Cordula Weißköppel


[1] Magazin „Luther erleben“. Sachsen-Anhalt. Ursprungsland der Reformation, Magdeburg 2016:12 ; siehe auch: https://www.luther-erleben.de/headernavigation/impressum.html; letzter Besuch am 21.12.2016

[2] U.a. Martina Tißberger 2009: Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus. Frankfurt a.M.: Lang; Helga Amesberger 2008: Das Privileg der Unsichtbarkeit. Rassismus unter dem Blickwinkel von Weißsein und Dominanzkultur. Wien: Braumüller; Steve Garner 2007: Whiteness. An introduction. London, New York: Routledge.

[3] Ein Wort, das Martin Luther erfunden hat , s.o. in „Luther erleben“, 2016:33.

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