Prof. Dr. Annegret Böhmer, Evangelische Hochschule Berlin – Psychologin und Coaching-Ausbilderin für PfarrerInnen

Berlin, 30.10.2011

Jokastes Töchter– Frauen und der Schwesternstreit


Richten wir den Blick auf uns selbst und unser Miteinander!
Wer sind wir eigentlich füreinander? Als Psychotherapeutin, Supervisorin und
Coach habe im Bereich von Kirche und Diakonie viel mit den nicht so gut
funktionierenden Aspekten des Miteinanders zu tun. Obwohl ich üblicherweise die
Ressourcenorientierung vertrete und dieser Abend insgesamt eine Ermutigung
darstellen soll, ist mein Thema heute nicht nur positiv. Ich beschreibe etwas
von der Deformation der Frauen im Patriarchat, die ich immer noch beobachte.[1]


„Sisterhood is powerful“ – mit diesem Glaubenssatz der
autonomen Frauenbewegung der 70er/80er Jahre bin ich selbst aufgewachsen.
„Frauensolidarität“ war eine Selbstverständlichkeit. Der gemeinsame Gegner „das
Patriarchat“ war allgegenwärtig. Schwesterlichkeit erschien notwendig, um die
gesetzten politischen Ziele zu erreichen. Wie steht es mit der
Schwesterlichkeit heute, 30 Jahre später? Ich richte meine Aufmerksamkeit auf
eine Problemzone, ohne diese verabsolutieren zu wollen. Viele gesetzliche Fortschritte
sind getan, aber es gibt wenig „Frauensolidarität“ oder Schwesterlichkeit.
Esgibt einen erheblichen
„Vermausungstatbestand“ bei Frauen (vgl. Mika 2010)[2].
Warum sind wir nicht weiter gekommen? Wo ist der Keilriemen der Geschichte, der
Dinge verändert, wenn allein Gesetze der Gleichberechtigung nicht verhindern,
dass die jetzige Generation von jungen Mädchen nichts attraktiver findet, als
sich vor Dieter Bohlen und seinesgleichen als Objekt zu präsentieren.

Auch der Top Modell Gestus vieler junger Business
Ladiesist aus meiner Sichteine Vermausung, weil diese Frauen so viel in
ihren „Objektstatus“ investieren.[3]
Der Blick von außen „Wie sehe ich aus? Wie komme ich an?“ spielt so eine
überdimensionierte Rolle, dass die eigene, von innen kommende Kraft und Potenz
sich kaum entfalten kann. Auch Männer
werden zusehends in diese Optimierung des eigenen Körpers gedrängt,wie Zeitungen wie „Men‘s Health“ und die
steigende Zahl männlicher Essgestörter zeigen.[4]
Aber dieses Problem der basalen Selbstunsicherheit und Selbstentfremdung ist
bei Frauen epidemisch, während es sehr viele Männer gibt, die übergewichtig,
ungepflegt und schlecht angezogen durch die Straßen gehen. Statt eines
Selbstzweifels strahlen sie aus, sie wären ein Geschenk an die Welt. Während
immer noch sehr viele mittelmäßige Männer sehr mit sich zufrieden sind, nagen
Minderwertigkeitsgefühle und Selbstzweifel an den tollsten Frauen.

Woher kommt es dass viele Frauen erfolgreich und unglücklich
zugleich sind? Woher kommt diese fehlende Substanz an Selbstachtung trotz
rechtlicher Gleichstellung? Dazu möchte ich eine psychoanalytische Erklärung
heranziehen. In dem griechischen Ödipus-Drama, in dem der Sohn Ödipus
(unwissend) zum Geliebten seiner Mutter wird, heißt die Mutter Jokaste. Freud und
die männlich dominierte Psychoanalyse griffen mit dem Ödipus Mythos das Begehren des Sohnes der Mutter gegenüber
auf und dessen Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung des Mannes. Die
französische Psychoanalytikerin Christiane Olivier fragte 1980 in ihrem Buch
„Jokastes Kinder“ nach dem Begehren der
Mutter
.[5] Ihre
These: Die Mutter in unserer Kultur begehrt den Sohn ungleich mehr als die
Tochter, so dass die Tochter nicht mit
dem selbstverständlichen Grundgefühl groß wird, bedingungslos liebenswert zu
sein. Mädchen lernen, wenn sie es der Mutter recht machen, wenn sie helfen,
Leistung erbringen, erleben sie Anerkennung, aber nicht einfach so, weil die
Mutter sie so großartig und bereichernd empfindet. Die Söhne hingegen sind nach
Olivier die begehrten Objekte der Mütter.[6]
Das hat sowohl mit der heterosexuellen Orientierung der meisten Mütter als auch
mit der Bewertung der Sohnesgeburt im Patriarchat zu tun. Erst der Sohn macht
die Frau zum voll potenten Individuum. Die Söhne nehmen unter diesen Umständen
die Selbstverständlichkeit der eigenenLiebenswürdigkeit buchstäblich mit der Muttermilch auf.[7]
Die Mädchen und Frauen leben nach Olivier mit einem ungestillten Begehren ihrem
ersten Liebesobjekt, der Mutter, gegenüber und fühlen immer für diese im Vergleich
mit ihren Brüdern „nicht gut genug zu sein“. Während sie sich angewöhnen es
anderen recht zu machen und sich Männer suchen, die sie hoffentlich begehren,
schwelt bei Frauen gegenüber der Mutter unbewusste Aggression und der
Enttäuschungshass wegen der Zurückweisung.[8]
Soweit „Jokastes Kinder“ und die Psychoanalyse.

Warum erzähle ich Ihnen diese alten Thesen? Wenn Frauen mit
anderen Frauen in Zusammenhängen von Erwerbsarbeit und Macht zu tun bekommen,
ereignen sich bisweilen emotionale Dramen, die dann dazu führen, dass viele
Frauen und Männer sagen: „Frauen in Leitungspositionen sind ja noch viel
schlimmer als Männer! Von wegenSchwesterlichkeit, das Gegenteil ist der Fall!“ Es gibt viel
Enttäuschung über Frauen in Leitungspositionen. Um diese Zusammenhänge zu
erhellen, ist der Blick auf Vatertöchter, Muttertöchter und „Jokastes Töchter“[9]
hilfreich.

Vatertöchter


Unter den von Olivier beschriebenen
Sozialisationsbedingungen haben Vatertöchter doppeltes Glück. Einerseits
erleben sie liebenswert zu sein, wenn der Vater seine Liebe, sein Begehren[10] auf die Tochter richtet. Zusätzlich
werden sie vom Vater in Bezug auf Erfolgsstrategien gefördert.Wenn der Vater seine Ideale in seiner Tochter
verwirklicht sehen kann, fördert er sie und das Mädchen hat die Gelegenheit
sich durch „Lernen am Modell“ die
männlichen Erfolgsstrategien anzueignen. Für Mädchen, die einen liebevollen und
wertschätzenden Vater erleben, bedeutet viel Vater viel Selbstbewusstsein. Es
ist schon lange bekannt,dass in den
letzten Jahrzehnten statistisch überdurchschnittlich viele Frauen in
Spitzenpositionen solche Vatertöchter waren.[11]
Für die Vatertöchter ist Schwesterlichkeit in der Regel kein Traumziel. Sie
ziehen ihr Selbstverständnis nicht aus dem Kontakt mit den Schwestern, sondern
aus dem Wohlwollen des Vaters und ihrem eigenen Tun. Ihre Erfolgsstrategien,
ihr Egozentrismus und die daraus resultierenden Probleme ähneln oft denen der
Männer.

Muttertöchter


Es gibt glücklicherweise nicht nur die von Olivier
beschriebenen ungeliebten Töchter, sondern auch die von ihren Müttern wirklich
angenommenen und genährten Mädchen und Frauen. Wenn man von den Vatertöchtern
sagt, sie kommen leicht in Leitungspositionen, so kann man von den
Muttertöchtern sagen, sie kommenüberall
hin.Es wurde besonders von der
italienischen Philosophinnengruppe Diotima betont und beschrieben, welche
persönliche und politische Ressource eine gute Mutter- Tochter-Beziehung
darstellt.[12] Während
die männlich orientierten Psychoanalytiker/innen die Entfremdung und das Zerwürfnis
zwischen Mutter und Tochter als regelhaft sehen, beschreibt Luisa Muraro
dastiefe und sichere Selbstverständnis
von Frauen, die eine positive Identifikation mit der Mutter haben. Es ist dabei
interessant zu sehen, dass solche Frauen, selbst wenn Sie keine Karriere in der
Männergesellschaft machen, sondern in traditionellen Frauenrollen leben, oft
glücklicher und „runder“ wirken als die Mehrzahl der „Vatertöchter“. Für die
Muttertöchter ist Schwesterlichkeitein
hoher Wert, aber kaum eine zentrale Überlebenskategorie.

Jokastes Töchter


Anders ist es damit bei der dritten und wahrscheinlich heute
zahlreichsten Gruppe von Töchtern, die sich Schwesterlichkeit sehnlichst
wünscht, weil sie weder vom Vater noch von der Mutter genug Aufmerksamkeit
bekamen. Wir sehen diese Frauen überwiegend in der zweiten Reihe sehr gute
Arbeit machen. Sie haben es gut gelernt für sich selbst zu sorgen und es
anderen recht zu machen. Ihnen fällt allerdings die übliche Ambivalenz, das
Wechselspiel von Konkurrenz und Kooperation, das Homo Sapiens in
professionellen Zusammenhängen spielt, besonders schwer.[13]
Ganz besonders schwer fällt ihnen die Ambivalenz zwischen Unterstützung und
Rivalität, wenn es sich bei den Homo Sapiens um Frauen handelt. Denn Jokastes
Töchter prädestiniert der Mangel an Selbstliebe dazu sich mit guten, starken
Frauen solidarisch fühlen zu wollen, sich mit ihnen identifizieren zu wollen.
Unbewusst steht dahinter die Sehnsucht, am Ende doch noch eine gute Mutter zu
haben, für die man „die Richtige“ sein könnte. Damit geraten sie nicht selten
in die zweite Reihe der Gefolgschaft von Vatertöchtern, die die Unterstützung
einer solchen Frau sehr angenehm finden.[14]
Jokastes Tochter bemüht sich, für die Vatertochteralles besonders „gut“ zu machen. Wenn es dann
von dieser anderen Frau Gegenwind oder Missachtung[15]
gibt, trifft es sie ins Mark. Bei Konflikten können sie ins Bodenlose fallen.
Das Leid und die Demotivierung in Bezug auf die Arbeit sind immens. Um ihren
Selbstwert wieder herzustellen, dämonisieren sie das Gegenüber und kämpfen
unbewusst hier ihren längst fälligen Rachekampf gegen die schlechte, die böse
Mutter.[16]



Jokastes Töchter als
Warnbegriff für Familialisierung des Berufes


Warum erzähle ich das? Ich möchte nicht die Frauen
diskreditieren, die das Schicksal einer Tochter der Jokaste haben, sondern ich
möchte zu einer Bewusstheit beitragen, die Schutz bedeutet. Den Begriff
„Jokastes Töchter“ möchte ich als Warnbegriff dafür einführen, dass Frauen ihre
beruflichen Beziehungen familialisieren und damit alte Probleme immer neu
aktualisieren. Ich plädiere für eine bewusste Trennung von professionellen
Beziehungen und privaten. Die Schwester gehört in den privaten Bereich. Alle
Frauen, die an berufliche Beziehungen persönliche Bedürfnisse und Sehnsüchte
herantragen, sind in der Risikozone.[17]
Und Frauen sind besonders gefährdet, weil ihre emotionale Versorgung im
privaten Bereich auch nicht selbstverständlich ist.

Für Männer ist die Trennung Beruf und Privat traditionell
komfortabel. Im Beruf wird gearbeitet, gekämpft und zuhause pflegt die
Frau/Mutter die Wunden und macht es gemütlich, so dass der Mann aufgetankt mit
Libido am nächsten Tag wieder aufbrechen kann. Für eine Frau ist es Glücksache
eine solche Versorgungspartnerschaft zu finden. Der häufigere Fall ist, dass
Sie nach dem beruflichen Kampf zuhause noch die Reproduktion von Kindern
und/oder Partnern übernimmt. Wenn Sie dann ausgehungert nach etwas Anerkennung
auf eine andere Frau trifft, für die das ebenso ist, wird es gefährlich.
Deshalb rate ich zu einer bewussten Trennung von professioneller und privater
Sphäre. In ihren Arbeitsbeziehungen sollten Frauen professionell sein, dass
heißt ressourcenorientiert und wertschätzend. In ihrem privaten Leben sollten
sie dafür sorgen, dass sie ihre Bedürfnisse leben können, satt werden an
Begehren, Nähe und Anerkennung.

Schwesterlichkeit ist ein Begriff, der heute als politische
Parole nicht mehr anwendbar ist.[18]
Der Familienvergleich hilft eine starke Gemeinschaft zu bilden, solange man
einen gemeinsamen Feind hat. Er suggeriert Gleichheit der Schwestern und
verbietet Ungleichheit, Machtdifferenzen.[19]
Aber der Begriff Schwesterlichkeit ist irreführend in einer Welt, in der Frauen
ungleich sind, übereinander Macht ausüben. Wenn sie das professionell tun
würden, ressourcenorientiert und wertschätzend, auch im Bewusstsein eigener
Verletzungen und Mangelerfahrungen, wäre schon viel gewonnen.



[1] Der
Begriff Patriarchat ist durch das
Verschwinden speziell väterlicher
Autorität kaum noch zutreffend. Eher ist es heute wohl passend von Männerherrschaft zu sprechen. Wir leben
in einer Gesellschaft, die nach wie vor an den Interessen und Bedürfnissen von
Männern orientiert ist.

[2] Mika,
Bascha (2011): Die Feigheit der Frauen. Rollenfallen und Geiselmentalität. Eine
Streitschrift wider den Selbstbetrug, Gütersloh.

[3] In den
80er Jahren wurde viel darüber diskutiert, dass die Männer den Status als
„Subjekt“ haben, während die Frauen zum „Objekt“ männlicher Bedürfnisse
degradiert werden.

[5] Olivier,
Christiane (1989): Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter.
München. Französische Originalausgabe „Les enfants de Jocaste“, Paris 1980.

[6] Ein
Pfarrer beschrieb vor kurzem in einem Fortbildungskurs das Verhältnis seiner
Mutter zu ihm so: „Es grenzt an Heiligenverehrung“. Andere Männer nickten
zustimmend. Auch sie erleben ihre Mütter so. Das kann selbstverständlich auch
mit gewissen Problemen verbunden sein.

[7] Vgl. Olivier 1989, S. 47 ff.

[8] Vgl.
auch Musfeld, Tamara (2001): Im Schatten der Weiblichkeit. Über die Fesselung
weiblicher Kraft und Potenz durch das Tabu der Aggression, Tübingen.

[9] Der
Terminus „Jokastes Töchter“ wurde so nicht von Olivier eingeführt. Ich benutze
ihn, weil ich die Klassifizierung der drei Töchtertypen hilfreich finde. Ich
gehe dabei nicht von einer schicksalhaft festgelegten Persönlichkeitsstruktur
aus, sondern eher von einer systemischen Wahrscheinlichkeit, welcher Anteil des
„inneren Teams“ in einer bestimmten Konstellation in den Vordergrund kommt.
Vgl. Schulz von Thun, Friedemann u.a. (2001) Kommunikationspsychologie für
Führungskräfte Reinbek, S. 45 ff.

[10] Dieses
positive väterliche „Begehren“ meint ein liebevolles Interesse und ist nicht
mit sexueller Gewalt zu verwechseln.

[11] Vgl.
Bernardoni, Claudia und Werder, Vera (1990): Ohne Seil und Haken. Frauen auf
dem Weg nach oben. München. Die Autorinnen geben an, dass von 10 erfolgreichen
Frauen 8 in die Kategorie der „Vatertochter“ gehören.

[12] Muraro,
Luisa (2006): Die symbolische Ordnung der Mutter. Rüsselsheim. Die italienische
Originalausgabe erschien 1991.

[13] Vgl z.
B. Jansen, Stephan: Konkurrenz oder Kooperation? In: Supervision 3/2007, S.
28-39.

[14] Im
Sinne des bekannten Mann-Frau-Rollenmodells.

[15] Diese
als Missachtung erlebte mangelnde Wertschätzung für die Zuarbeit einer anderen
Frau gehört nicht selten zum Verhaltensrepertoire der Vatertöchter.

[16] Aus
meiner Sicht ist das der Grund, weshalb einige mächtige Frauen gern einen Mann
im Vorzimmer sitzen haben. Da droht nicht die neurotische Attacke aus dem
Nichts. Der Begriff neurotisch steht für unbewusste Konflikte.

[17] Das
betrifft natürlich auch Männer. Es ist z.B. bei Pfarrern oft zu beobachten.

[18] Als der
weiße, bürgerliche Mann sich von den Ketten des Adelsstandes löste, war auch
die Rede von Brüderlichkeit: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Der
Begriff spielt im politischen Diskurs heute keine Rolle mehr.

[19] Vgl.
Böhmer, Annegret (1995): Arbeitsplatz Evangelische Kirche. S. 281- 307 in
Gröning, Katharina und Bauer, Annemarie: Institutionsgeschichten,
Institutionsanalysen, Tübingen.

Frauenmahl Logo