Prof. Dr. Antje Sander – Leiterin des Schlossmuseums Jever

Oldenburg, 31.10.2012

Von einer Historikerin und Museumsfrau erwarten Sie wahrscheinlich einen aus der Vergangenheit hergeleiteten Blick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Und ich möchte diese Erwartung nicht enttäuschen und mich den Leitfragen dieses Abends mit Hilfe zweier Geschichten nähern.

1717 brach über das gesamte Gebiet der südlichen Nordseeküste die sogenannte Weihnachtsflut herein, vernichtete viele Menschenleben, das Vieh und versalzte die Böden. Die Erklärungsversuche der Pastoren, die diesen Schrecknissen einen Sinn geben wollten, verweisen noch ganz im mittelalterlichen Verständnis auf die menschliche Schuld an der Zerstörungskraft der Naturgewalten. Viele der evangelischen Theologen argumentierten, dass die Sünden der Menschen dazu geführt haben, dass Gott gleichsam als Strafe, die Flut geschickt hätte. Hier ist trotz Reformation das mittelalterliche Weltbild zu spüren, das den Menschen und seine Beziehung zu Gott als Ausgangspunkt aller Geschehnisse in der Welt sieht.

Sucht heute der zivilisationsmüde Mensch gerade im Kontakt zum Meer den Einklang mit der Natur, waren das Mittelalter und die frühe Neuzeit von dem Gegensatz des Menschen zur Natur, die eigenen Regeln unterworfen war, geprägt. Erst mit der Aufklärung und insbesondere in der Romantik bekam die Natur einen eigenen Wert. Die Deutungsmuster der Naturkatastrophe „Sturmflut“ wandelten sich vom Mittelalter bis in die Moderne, wobei es sicherlich nicht möglich ist, einen genauen zeitlichen Schnitt für die unterschiedlichsten Wahrnehmungen zu setzten.

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts und auch noch weit darüber hinaus stand die metaphysische Deutung der Sturmflut im Vordergrund. Sie wurde als Zorn Gottes beschrieben, der ob der Schlechtigkeit der Menschen wütete. In einer religiösen Weltsicht stellte sich auch das Ereignis einer Sturmflut als gottgegeben dar.

Andererseits sahen gerade die betroffenen Marschbewohner selbst die eigene Arbeit am Deich als wichtigen Schutz vor einer Flut an, der man also nicht per se völlig hilflos ausgeliefert war, sondern die in einem ursächlichen Zusammenhang zu dem Verhalten der Menschen stand.

Die Natur erscheint zwar als existenzbedrohlich, doch wird auch dargestellt, dass der Mensch selbst mit dem Deichbau, mit den Sielen und Schöpfwerken diese Herausforderung zu meistern vermag. Der Mensch kann zudem die Natur nicht allein durch Frömmigkeit und religiösen Gehorsam bändigen, sie verläuft nach eigenen

Gesetzen, die jenseits des menschlichen Einflusses liegen.

Die Natur, die Schöpfung erscheint in dieser Beziehung also nicht als etwas, das bewahrt werden muss, sondern als etwas, was selbst machtvoll und zerstörerisch ist und beherrscht werden muss.

Die zweite Geschichte, die nur etwas versteckt das Verhältnis des Menschen zur Natur beschreibt, kennen Sie alle. Ein Kind wird in den Wald geschickt, weil nur hier noch die Hoffnung besteht, etwas zu essen zu finden.

Es sind nicht die Produkte einer durchorganisierten Landwirtschaft, die den Ärmsten der Armen in dieser Geschichte Hilfe bringen, sondern die Früchte des Waldes, die für jeden, Mensch und Tier, wachsen. Das Kind erhält hier in der wilden Natur durch eine alte Frau – gleichsam Mutter Natur – einen kleinen Topf geschenkt, der süßen Brei, also eine nahrhafte Köstlichkeit kocht. Erst durch die Gier der Mutter und durch ihr Unvermögen, mit diesem Geschenk umzugehen, wird dieser Segen zum Fluch; der Überfluss zur klebrigen Masse, die alles zu ersticken droht.

Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist für mich immer auch ein Gradmesser in der Geschichte für die Beziehung des Menschen zum Metaphysischen, zu Gott.

Die Bewahrung der Schöpfung gehört sicherlich zu den zentralen Herausforderungen unserer Zeit, viele Probleme sind mit diesem Ziel verknüpft.

Der Philosoph Michael Hampe arbeitet in seinem viel beachteten Buch über "Tunguska oder das Ende der Natur" heraus [1], dass sich eigentlich bis heute – in der Tradition von Sokrates und Hegel stehend – Natur und Menschlichkeit gegenüberstehen und daher die Auffassung vorherrscht, "dass wir die menschlichen

Verhältnisse ohne allzu große Rücksicht auf die Natur regeln können" (S. 272). Doch hat hier sicherlich ein Umdenken stattzufinden, denn der Mensch ist doch gerade deshalb in diese Konflikte geraten, in der die Klimaveränderung durch Monokulturen, CO2-Gase, Massentierhaltung und Abholzungen verursacht werden, weil wir uns nicht mehr als Teil der Natur verstehen sondern als ihr Gegenüber. (S. 273)

Die Schöpfung ist für mich nicht nur das, was uns Menschen dient sondern das, was für alle Geschöpfe wichtig ist und dies nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft.

Die Achtung vor dem Leben in jedweder Form, der Respekt von den Tieren und Pflanzen ist auch ein Gebot der Gerechtigkeit, ein weites wichtiges reformatorisches Anliegen, das auch für das gesamte Leben gelten sollte.

Michael Hampe schreibt, dass "der Einfluss der Menschen auf die Natur, der zu Problemen für viele Menschen führen könnte, keiner ist, der durch das Handeln Einzelner, nicht einmal durch die Summation ihres Handelns, sondern durch die enormen Wirkungen der Leistungen von Strukturen großer Kollektive verursacht

wird, die sich über industrielle Produktionsmethoden versorgen." (S.279). Und genau hier, denke ich, kann "die Kirche" ansetzen: als ein machtvolles Kollektiv.

Von der Kirche erwarte ich, dass sie sich einmischt und diese Zusammenhänge von Ressourcen, dem rechten Maß, Verschwendung, Fülle und Respekt und Bescheidenheit aufzeigt. Wo sind die Grenzen des Habenwollens zu ziehen, wo beginnt die Fürsorge, wo hat jeder einzelne Verantwortung zu tragen?!

Hier zeigt die Kirche in den letzten Jahren verschiedene Wege auf und fördert Aktionen. Als Beispiel möchte ich auf das kirchliche Engagement gegen Lebensmittelverschwendung verweisen, in dem der sorgsame Umgang mit Lebensmitteln als ein ureigenes christliches Thema herausgearbeitet wird.

Bei einer Kampagne der nordelbischen Kirche "Bewusst einkaufen kann jeder" wird auf das Luther-Wort verwiesen; "dass Gott den Menschen mit Äckern, Vieh und allen Gütern, mit allem, was Not für Leib und Leben reichlich und täglich versorgt".

Dies ist, wie auch die Beispiele, die ich Ihnen in den Geschichten vorgestellt habe, noch eine sehr von dem Menschen ausgehende Sicht auf die Schöpfung. Aufgabe von Kirche und reformatorischem Denken heute könnte es sein, diese homozentrische Sicht auf die Schöpfung weiterzuentwickeln.

Das Gleichnis der Vögel im Himmel, die obwohl ihr Zweck für die Menschen nicht erkennbar ist, dennoch genährt werden, ist hier sicherlich wegweisend.

Der Dreiklang Freiheit, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wird in Zukunft von immer größerer Bedeutung werden, denn nun sind es wirklich wir Menschen, die die neuen Bedrohungen durch den Klimawandel verursacht haben. Die Fluten der Zukunft sind von uns Menschen in den Industrienationen zu verantworten. Hier können wir uns nicht hinter mittelalterlichen Erklärungsmustern verstecken, sondern die Wissenschaft hat den Zusammenhang unmissverständlich aufgezeigt.

Ich wünsche mir von unserer Kirche, dass sie hier laut und vernehmlich und mit reformatorischer Leidenschaft Stellung bezieht und auf die Möglichkeiten und Chancen verweist, die ein Christ in der Gemeinschaft hat, wenn er die Bewahrung der Schöpfung ernst nimmt.

[1] Michael Hampe, Tunguska oder Das Ende der Natur, München (Carl Hanser Verlag) 2012.

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