Prof. Dr. Claudia Janssen – Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Theologie und Kirche

Frauenmahl in Tutzing, 22.5.14

Tischrede von Prof. Claudia Janssen, Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Theologie und Kirche

Das Private ist politisch! – das war das Motto der Frauenbewegung der 1970/80er Jahre und galt zugleich immer auch für feministische Theologien, die in dieser Zeit entstanden sind.

„Politisch“ wurde immer in einem ganz umfassenden Sinn verstanden: in Bezug auf

Alltagsfragen in der eigenen Gesellschaft, weltweit und im Blick auf umfassende Themen wie Rassismus, Antijudaismus, bezogen auf Geschlechterfragen, Wirtschaft, Umwelt und das Miteinander der Religionen.  

Und wie politisch ist feministische Theologie heute, ist sie es überhaupt noch? Das war die Ausgangsfrage einer Tagung der deutschen Sektion der ESWTR (Europäische Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen), die vor einiger Zeit (2011) stattfand: [1] Selten wurde so angeregt diskutiert wie auf dieser Tagung, zu der auffällig viele jüngere Theologinnen angereist waren. Diese Vielfalt und Weite der neueren feministischen und geschlechterbewussten Ansätze, die sich hier zeigt, ist die Chance, dass es weitergeht – trotz aller Beerdigungsreden auf die feministisch-theologische Bewegung, die in den vergangenen 40 Jahren immer wieder neu gehalten wurden.  

Lernen von mutigen Menschen

Die Power kam von Anfang an aus den Bündnissen, in denen Theorie und politische Praxis zusammen kommen: zu Beginn aus den Bündnissen mit der Frauen- und Friedensbewegung, heute mit den LGBTIQ-Bewegungen: (lesbian, gay, bi-, trans- intersexual, queer), mit Gruppierungen, die sich für weltweite Gerechtigkeit einsetzen wie Attac oder Blockupy, die Innovationskraft kommt aus der Auseinandersetzung mit Genderstudies, Disbilitystudies und postkolonialen Ansätzen.

Ich selbst habe auf dem Kirchentag 1983, wo es große Demonstrationen gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss gab, Dorothee Sölle sprechen gehört. Die Bibelarbeiten von ihr und Luise Schottroff haben mich für das Neue Testament begeistert. Später habe ich Bücher von Elisabeth Schüssler Fiorenza, Leonore Siegele Wenschkewitz, Judith Plaskow und Bernadette Brooten gelesen, sie auf Tagungen erlebt. Es sind die mutigen Frauen gewesen, die mich mit ihren Ideen und ihrem Engagement angesteckt haben.  

Durch mutige Menschen kommt etwas in Bewegung – Menschen, die ihre eigenen Verletzungen sichtbar machen, andere zum Nachdenken anregen, die sich dem Gespräch stellen, aufeinander hören und zusammen überlegen, wie etwas verändert werden kann. Zu diesen mutigen Menschen gehört für mich Lucie Veith, Vorsitzende* des Vereins intersexueller Menschen, die bei der Eröffnung unseres Studienzentrums der EKD  für Genderfragen im April diesen Jahres gesprochen hat. Sie wurde als ein xy – chromosonales, also eher ein männliches Kind geboren, das äußerlich weiblich erscheint, jedoch mit Hoden im Bauchraum. Dennoch wurde es als Mädchen erkannt und  getauft. Lucie Veith sagt von sich: „Ich wurde Opfer eines medizinischen Humanversuchs und habe es überlebt.[2]

Immer noch werden viele Säuglinge operiert, damit sie geschlechtlich eindeutig werden und in das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit passen, sie erfahren körperlich und psychisch Gewalt, die sie ihr Leben lang begleitet. Lucie Veith ist als ehrenamtliche Berater_in von xy-Frauen Hunderten intersexuellen Opfern begegnet, deren Geschichten meist unsichtbar bleiben.

Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir in unseren Kirchen die vielfältigen Identitäten von Menschen wahrnehmen, ihren Erfahrungen austauschen und zusammen überlegen, wie sich unser Miteinander so verändern kann, dass alle vorkommen und geachtet werden, z.B. schon bei der Anrede: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Männer und Frauen“ – das allein schließt intersexuelle Menschen aus. Sprache ist ein wichtiges Feld, das Wirklichkeit abbildet und sie verändern kann. „Ist es ein Mädchen oder Junge?“ werden junge Eltern gefragt – und wenn es weder noch ist oder beides? Hier müssen wir alle neu lernen.

Sehr beeindruckt hat mich aktuell auch Conchita Wurst, die sich mit hoher Professionalität und Qualität in perfekter Schönheit inszeniert und mit ihrem Bart provoziert. Tom Neuwirth ist als schwuler Mann und in Gestalt als Conchita Wurst vielen Anfeindungen ausgesetzt. Auf ihrer Facebook-Seite reagiert sie darauf und spricht die Leute direkt an, die sie beleidigen: „Wie würde es euch gehen, wenn eure Freunde, Verwandten, Kinder, Kollegen usw. auf diese Weise beschimpft werden? Ich bin mir sicher, dass es in eurer näheren Umgebung ebenfalls Menschen gibt, die ‚anders‘ sind. In diesem Sinne kämpfe ich weiterhin GEGENDiskriminierung und FÜR Toleranz. Denn ich bin davon überzeugt, dass im 21. Jahrhundert wirklich JEDER Mensch das Recht hat, so zu leben, wie er möchte, solange niemand anderer in seiner Freiheit eingeschränkt oder verletzt wird…“ (Conchita Wurst: Facebook, 12. September 2013) [3]

An den theologischen Fakultäten vermisse ich die wissenschaftliche Diskussion über diese Fragen. In den Sozialwissenschaften gibt es Gender- und Queer-Studies, die Innovationsprozesse, ein neues Denken von Geschlecht und Identität anregen und damit Impulse für gesellschaftliche Entwicklungen geben. Es geschieht hier in kurzer Zeit so viel wie kaum in einem anderen Bereich – doch die Theologie bleibt merkwürdig stumm.

Genderkompetenz gilt an den meisten Fakultäten nicht als wissenschaftlich relevant. (Es gibt zwar zunehmend Projekte und Bücher, auf denen „Gender“ steht, weil es dafür Forschungsmittel gibt – aber selten ist auch Gender drin…)

Auf der anderen Seite gibt es vielfältige Verunsicherungen und Ängste. Familien stehen unter Druck. Viele Menschen fragen sich, ob ihre Lebensmodelle noch tragen, wenn sie alt oder arbeitslos werden. Mittlerweile werde 50% aller Ehen geschieden. Es gibt keine „Normalität“ mehr, die ein sicheres Leben garantiert, keine Mehrheit einer Lebensform.

Was trägt uns, wie können wir verbindlich Verantwortung füreinander übernehmen? Das sind keine politischen Randthemen, sondern zentral für unsere Gegenwart und Zukunft.

Diese Fragen lösen Ängste aus, sind aber auch eine Chance. Hier ist eine wichtige Aufgabe der Kirche, Räume für Diskussionen zu öffnen und deutlich zu machen: Die Ängste kommen nicht aus der Bibel. Sie kommen aus Vorstellungen davon, was eine „richtige“ Familie ist, der kaum jemand gerecht werden kann.

Familie neu denken


Die EKD hat mit ihrer Orientierungshilfe zum Thema Familie [4] einen wichtigen Weg eingeschlagen, nämlich Familie nicht nur auf heterosexuelle Paare zu beschränken: Familie ist dort, wo Menschen verbindlich zueinander stehen und Verantwortung für andere übernehmen. Das Papier stellt grundlegend die Frage nach Gerechtigkeit. Es ist nicht in Ordnung, dass vor allem Frauen erst die Kinder versorgen und dann die alten Eltern und Schwiegereltern und ökonomisch abhängig von ihrem gut verdienden Ehemann sind – und dann noch im neuen Scheidungsrecht benachteiligt werden. Heute wollen auch junge Männer gleichberechtigt und gleichverpflichtet Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und stoßen genauso an Grenzen. Schwule und lesbisch lebende Menschen sorgen für ihre Kinder und für andere hilfebedürftige Menschen, auch das sind Familien.

Welche Gemeinschaften stehen verbindlich für einander ein? Das ist die entscheidende Frage angesichts der drängenden gesellschaftlichen Entwicklungen, der immer weiter voranschreitenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Ein Zurück zum Familienmodell der 1960–Jahre kann es nicht geben. Die heile und lebenslang funktionierende Klein-Familie hat es nicht einmal in dieser Zeit wirklich durchgängig gegeben und jemals weder in der Zeit davor, noch in unserer Gegenwart.  

Deshalb dürfen wir uns als Kirche nicht von denjenigen, die ängstlich und verunsichert sind, davon verleiten lassen, wieder zurück zu rudern und vor allem nicht von denen, die diese Ängste für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Ich möchte allen Verantwortlichen in Kirche und Theologie zurufen: Habt mehr Mut! – freut euch doch, dass endlich Fragen auch an unsere biblische Tradition gestellt werden und über die gesellschaftlich notwendigen Fragen gestritten wird. Überlasst die verunsicherten Menschen nicht den politisch Rechten, die das Thema Familie für sich vereinnahmen. Die Demonstrationen in Frankreich „für die Familie“, die sich explizit gegen homosexuelle Menschen richten, erschrecken mich zutiefst.

Auch bei uns gibt es große Polarisierungen in dieser Frage. Deshalb sollten Kirchengemeinden Begegnungen zwischen hetero- und bisexuellen, lesbischen und schwulen, inter- und transsexuellen Menschen ermöglichen, miteinander über ihre Lebensformen, über Würde und Identität, Familie und Kinder sprechen, Ängste nehmen, erklären, zuhören und begleiten. Gott hat alle Menschen in Vielfalt und mit Würde geschaffen – wer sind wir, dies einschränken zu wollen?!  

Für mich ist die Bibel in diesem Prozess der Veränderung eine Kraftquelle – spirituell und politisch. Sie ist Stärkung auf dem Weg und lehrt die Geduld der vielen kleinen Schritte.

Deshalb möchte ich mit den ermutigenden Worten des Paulus, eines frühen Gendertheologen, schließen: „Schwimmt nicht mit dem Strom. Macht euch von den ungerechten Strukturen dieser Zeit frei, indem ihr euer Denken erneuert. So wird euch deutlich, was Gott will: das Gute, das, was Gott Freude macht, das Vollkommene. (Röm 12,2)



[1] Stefanie Schäfer-Bossert; Elisabeth Hartlieb (Hg.), Feministische Theologie – Politische Theologie. Entwicklungen und Perspektiven, Ulrike Helmer-Verlag, Sulzbach/Taunus 2012.

[2] Lucie Veith, Tischrede Ma(h)l anders, anlässlich der Eröffnung des Studienzentrums der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie am 7.4.14 in Hannover

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Tom_Neuwirth#cite_note-16 – 20.5.2014

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