Prof. Dr. Heike Walz – Juniorprofessorin für Feministische Theologie/Frauenforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel

Düsseldorf, 6.11.2011

Sehr verehrte Damen, liebe Frauen!

1.Utopien

Utopien – das ist meine Vision für die Zukunft von
Kirchen und Religionen in der Gesellschaft. Ou- oder Eu-Topie bedeutet wörtlich: „Ein guter, idealer Ort, der noch
nicht existiert“. Ich spreche hier und heute als Wissenschaftlerin der
feministischen und interkulturellen Theologie im Christentum.

Historisch wird die Insel Utopia wohl zum ersten Mal bei
Thomas Morus im Jahr 1516 (zu Zeiten der protestantischen Reformation) erwähnt.
Ich übersetze seine Vorstellung von einer Utopie in die Gegenwart: Ein Ort, an
dem der Glaube, die Herkunft, die Hautfarbe, der soziale Status, das Alter und
das Geschlecht nicht zu Ausgrenzung und Diskriminierung führen.Ein Ort, an dem die sprachliche, kulturelle
und religiöse Vielfalt von Frauen und Männern eine Quelle der Bereicherung und
Erneuerung ist, kurz: „Das gute Leben“für alle.

2.Utopisches
Denken in Lateinamerika

Utopischem Denken bin ich in Argentinien und
Lateinamerika weit häufiger begegnet als bei uns. Besonders beeindruckt hat
mich der Roman „Waslala“ von Gioconda Belli aus Nicaragua. Vielleicht kennen
Sie ihn.Melisandra, die Hauptfigur,
macht sich auf die Suche nach Waslala, dem „Ort der Freiheit, Gemeinschaft und
Solidarität“. Fast bis zum Schluss bleibt unklar: Gibt es diesen Ort wirklich
oder ist er „nur“ eine Phantasie? Doch allein die Idee, die Vorstellung von
diesem Ort beflügelt Melisandra und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter, im
Widerstand gegen Armut, radioaktiv verseuchten Müll und gewalttätige
Männerbanden. Die Schriftstellerei, die Kunst hat diese Gabe, Kraft zu wecken,
um Dinge zu denken, die es noch gar nicht gibt.

3.Koloniales
Denken aufgeben: Die Welt auf den Kopf stellen

Wie steht es mit dem utopischen Denken in der
Wissenschaft? Was könnte es bedeuten? Ich möchte es heute folgendermaßen
nennen: Das koloniale Denken aufgeben!In Deutschland wird gerne geflissentlich unsere koloniale Imprägnierung
seit dem 15. Jh. hinweggesehen. In einem Buch über die „Kolonialisierung des
Wissens und den westlich-abendländischen Eurozentrismus in den Wissenschaften“
ist die Kritik am kolonialen Denken in Form einer Weltkarte abgebildet. Sie
steht nämlich auf dem Kopf: Afrika, Asien und Lateinamerika sind oben eingezeichnet,
Europa und Nordamerika unten, Australien im Westen und Südamerika im
Osten.

Das Denken über die Welt auf den Kopf stellen! Seit ich
2009 nach einigen Jahren im Ausland (in der Schweiz und Argentinien) nach
Deutschland zurückgekehrt bin, brennt mir dies auf der Seele. Frauen in den
Wissenschaften der Universitäten und in den Religionen und Kirchen kommt hier
eine Schlüsselrolle zu, die tiefer liegenden Ursachen des kolonialen Denkens zu
durchleuchten, zu entlarven und zu überwinden.

Es ist ein langer Weg, die Denkstrukturen und Mechanismen
der selbstverständlichen, offen oder subtil geäußerten Überheblichkeit bei uns
auf den Kopf zu stellen! Es gilt, gegenüber „denen da unten“ im globalen Süden,
„den Anderen“, „den Zugewanderten“, „den Ausländern“ und „den Frauen“ zu
revidieren. Dieses hierarchische Denken von Oben und Unten, Weiß und Schwarz,
Mann und Frau, Vernunft und Körper, Mensch und Natur, Superreichen und Armen
auf den Kopf zu stellen. Hierzu gehört auch die Deklassierung von Frauen in anderen
Religionen und die Idealisierung der eigenen angeblich weniger patriarchalen
religiösen Tradition und Kirche. Was für eine Arroganz! Das „Wir“ und „die
Anderen“ ist zutiefst in der abendländischen Philosophietradition verankert.

Dagegen sollten wir das utopische Denken stellen!
Kulturen und Religionen stehen immer im Austausch, so lange wir zurückblicken
in die Geschichte Europas oder Deutschlands. Sie wandeln sich und sind stetig
in Veränderung. „Den Islam“, „das Christentum“, „die Deutschen“, das gibt es
nicht. Kulturen und Religionen eignen sich Elemente von „anderen“ Traditionen
an, streifen Überkommenes ab, entwickeln sich weiter. Völkerwanderungen,
Auswanderungen und Einwanderungen sind Teil unserer Wirtschaftsgeschichte und unserer
Lebensweise. Radikaler Respekt vor Differenzen, Unterschieden, „Hautfärbungen“
unter uns sollte zur Normalität in Deutschland werden! Dazu gehört, die Idee
von „deutscher Leitkultur“ oder „christlichem Land“ aufzugeben. Wie kann die
Revidierung des kolonialen Denkens konkret werden? Ichhabe zwei Ideen.

4.Revision
religiöser Traditionen in Netzwerken von Frauen – auch mit Männern

Seit Jahren lebe ich in der universitären Welt in
Freundschaft und Zusammenarbeit in Frauen-Netzwerken. „Inter“ ist das Stichwort
von Frauen-Netzwerken – sie sind interuniversitär, international,
interkulturell, interkonfessionell, interreligiös etc. Ich will sie frech als
Avantgarde bezeichnen.

Zu dieser Wissenschaftsutopie gehört: Der Elfenbeinturm
allein reicht nicht. Wir brauchen eine Wissenschaft, die sich empört, die im
Dialog mit Aktivistinnen kritische Theoriebildung entwickelt; die sich berühren
lässt, die die Dichotomie von Kopf und Körper unterläuft. Eine, die engagiertes
Handeln und kritische Theoriebildung zusammenbindet!

Ich möchte ein paar Beispiele nennen: Ein „säkulares“
Netzwerk existiert als Netzwerk der Frauen- und Geschlechterforschung von
Professorinnen in NRW.Die Europäische
Gesellschaft für Theologische Forschung von Frauen (ESWTR)ist ein „religiöses“.

Das dritte fällt aus dem Rahmen. Es ist ein
„intergeschlechtliches“ Frauen-Männer Netzwerk. Meine These ist, dass die
kritische Revision religiöser Traditionen im Blick auf das Geschlecht, den
ethnischen Hintergrund und das koloniale Denken auch mit Männern geschehen
muss. Im Netzwerk Geschlechterbewusste Theologie (NGT), das ich mitgegründet
habe, arbeiten Frauen und Männer aus der Schweiz, Österreich und Deutschland
daran.

Meine Erfahrung ist: Je weniger institutionalisiert,
desto besser! Damit unterlaufen wir akademisches Statusgeplänkel und vermeiden,
uns gegeneinander zu profilieren. Miteinander Neues Denken ausprobieren,
Nichtfertiges wagen, unbequeme Fragen stellen, das Andersdenken der Anderen
wertschätzen, darum geht es!

Warum mit Männern? Die Wirkungsmacht traditioneller
Geschlechterbilder und Geschlechterhierarchien betrifft beide, Frauen und
Männer; und sie stehen in Wechselbeziehung zueinander. Religiöse Männer
undTheologen stellen im Netzwerk das
Denken über Männer und ihr Geschlechterverhältnis zu Frauen und Sexualität
selber auf den Kopf. So können wir strategische Allianzen zwischen Frauen und
Männern schaffen.

5.Interreligiöse
Frauen-Universität

Mich fasziniert noch eine zweite Idee. In meinen
Tagträumen taucht die Vision einer Frauen-Universität für interreligiöse
Studien auf. Im kleineren Format gibt es das schon.

Ich möchte ein Beispiel aus der Schweiz nennen. Hier
haben Frauen 2008 den Interreligiösen Think Tank gegründet.Der Anlass war, dass zu einem offiziellen
runden Tisch der Religionen nur Männer berufen worden waren. Im Interreligiösen
Think-Tank der Frauen – der institutionell unabhängig ist – sind acht Frauen
vertreten: Zwei Islamwissenschaftlerinnen, zwei jüdische Theologinnen, zwei
römisch-katholische Theologinnen, eine evangelische Theologin und eine auf
interreligiösen Dialog spezialisierte Journalistin.

Sie mischen sich mit Statements in aktuelle politische
Debatten ein (in der Schweiz zu den Wahlen, zur Anti-Minarettabstimmung, zum
Burka-Verbot, zu Fällen des sexuellen Missbrauchs in den Kirchen, etc.).
Außerdem veröffentlichen sie Studien. Die jüngste Studie von 2011 behandelt das
Thema „Leitungsfunktionen von Frauen im Judentum, Christentum und Islam“.

Mich reizt diese utopische Idee, mit Kolleginnen aus
anderen Kirchen und Religionen an einer Frauen-Universität zu aktuellen Fragen
zu forschen: Was geschieht mit Frauenkörpern in unseren religiösen Traditionen?
Wie leben wir unseren Glauben und Spiritualität? Was sind die Ursachen, dass
patriarchale Interpretationen in unseren Religionen häufig privilegiert werden?
Wie kommt es zur Spannung zwischen Menschenrechten und Glaube in unseren
Religionen? Welche verschiedenen Strömungen haben sich in unseren Religionen
und Kirchen entwickelt: Wie sehen sie Frauen und Geschlechterverhältnisse? Wie
interessant wäre es, aktuelle Fragen sofort interkonfessionell und
interreligiös zu bearbeiten, anstatt sich in die mehr oder weniger gemütliche
Ecke der eigenen Kirche oder Religion zurückzuziehen!

6.Internationale
Frauen-Universität für Interreligiöse Studien

Ich spinne noch weiter: Wir würden natürlich unsere
Kontakte und Beziehungen zu religiösen Wissenschaftlerinnen im Süden und Osten
ausbauen… Daraus würde also irgendwann eine Internationale Frauen-Universität
für Interreligiöse Studien. Und hoffentlich mit einer Abteilung, die zu
interkultureller und interreligiöser Koexistenz anhand der Kunst arbeitet –
Malerei, Schriftstellerei, Musik …

7.Auf dem Weg

Utopien sind auf dem Weg! Wir sind auf dem Weg!

Die Frauenforschung zur protestantischen Reformation hat
ans Licht gebracht: Vor 500 Jahren vertraten couragierte Frauen ihre
Überzeugungen in der Öffentlichkeit: Fürstinnen, Adlige, Bürgerinnen, Gelehrte,
Dichterinnen.Sozialkritisch gehe ich
davon aus: Auch Bäuerinnen, Wäscherinnen, Arbeiterinnen und Dienstmädchen
hatten ihre Träume.

Heute sitzen wir hier an den Tischen des Rheinischen
Frauenmahls, vernetzen uns und spinnen utopische Ideen.

Wir sind auf dem Weg!

Wer weiß, vielleicht sehen wir uns in ein paar Jahren
wieder an der Interreligiösen Frauen-Universität!

Ich danke Ihnen.

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