Berlin, 30.10.2011
Lieber Martin,
Tischreden hast du wahrhaftig genug gehalten. Gerade habe
ich bei Wikipedia nachgeschlagen – ich weiß, wissenschaftlich nicht ganz
anerkannt – es gibt sage und schreibe sechs, SECHS Bände der Weimaraner Ausgabe
deiner gesammelten Werke mit solchen Reden. Gott bewahre! Und die arme
Katharina hat sie sich fast alle anhören müssen, wenn sie nicht gerade in der
Küche beschäftig war.
Aber weißt du was, Martin? Die Küche gehört heute dir.
Bleib bitte fein darinnen und störe uns nicht, wenn wir heute Abend als Frauen
von dem reden, was für die Zukunft wichtig ist. Manches kritisiere ich an dir,
ja, auch dein Verhältnis zu Frauen, zu Menschen jüdischen Glaubens, zur Gewalt.
Aber Deine reformatorischen Gedanken finde ich weiterhin gut! Freiheit eines
Christenmenschen, jedermann untertan, niemandem untertan, das ist alles
relevant, auch für Frauen heute. Aber das Priestertum aller Getauften, von dem
du damals geredet hast, ist eben auch ein Priestertum der Frauen. Das war dir
wohl gar nicht so recht klar in der Konsequenz. Katharina vielleicht damals
schon. Ob sie gedacht hat: Wenn er das ernst meint, können Frauen Priesterin
oder Pfarrerin oder Bischöfin oder gar Päpstin sein! Und es hat sich viel
getan. Aber nicht genug. Unter darüber, lieber Martin, wollen wir jetzt unter
uns Frauen reden.
Welche reformatorischen Impulse also brauchen wir? Ich
möchte fünf Anregungen geben.
1.In der Kirche
Oja, es hat sich vieles verändert. Dankbar können wir sein
in der Tat. Frauen können Pfarrerin, Bischöfin, gar Ratsvorsitzende werden.
Aber da gibt es nun auf einmal eine schleichende Angst vor der „Feminisierung
der Kirche“. Das hört sich an, als sei die Kirche nicht immer von Frauen
getragen worden – allerdings vornehmlich an der Basis. Nun heißt es, Frauen
seien nicht intellektuell genug, drückten das Niveau und verdürben gestandenen
Männern die Freude daran, den Beruf des Pastors zu wählen. All das erklärt
kraftstrotzend ein Herr Professor aus München unter dem fulminanten Titel
„Kirchendämmerung“. Ja als was versteht er die Kirche denn, als exklusiven
Herrenklub? Als Ort, an dem in noblen gebildeten Zirkeln ziselierten
exegetischen und dogmatischen Feinheiten nachgegangen wird. Ein für mich sehr
merkwürdig exklusives Kirchenbild, das mit biblischem Zeugnis wenig zu tun hat.
Noch immer wird offensichtlich nicht wertgeschätzt, was
Frauen in den vergangenen Jahren beigetragen haben zur neuen Sicht auf manchen
biblischen Text, welche Veränderung, ja Entkrustung von Gottesbildern
stattgefunden hat. Und das, das ist mir wichtig, waren nicht zuerst die
Theologinnen, sondern eine Basisbewegung von Frauen, die oft in der
Weltgebetstagsbewegung verwurzelt war. Die „Gemeinschaft von Frauen und Männern
in der Kirche“, die einst die Sheffieldkonferenz von 1974 forderte, sie ist
noch immer nicht verwirklicht. Das Thema wird als lästig angesehen,
Genderseminare werden lächerlich gemacht. Und das Thema Sexualität wird
verdrängt. Die letzte EKD Studie hierzu stammt aus dem Jahr 1971! Eine neue
soll folgen, aber wann ist die Frage.
Es bleibt Reformbedarf, was die Beteiligung von Frauen
und den Umgang mit Sexualität betrifft.
2. In der Gesellschaft
Frauen geraten immer wieder in die Armutsfalle. Dazu
tragen die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei, die weiterhin
tiefe Kluft bei den Einkommen und das Niedriglohnniveau bei traditionellen
Frauenberufen. Die Zahl der Hortplätze für Kinder unter drei Jahren ist
skandalös gering. Dazu trägt auch ein Mutterbild bei, das Frauen drängt, Jahre
aus der Berufstätigkeit auszusteigen. Zudem sind Arbeitsplätze in
Kindererziehung und Pflege von Lohndruck erfasst – in der Mehrzahl arbeiten
hier Frauen. Viele dieser Arbeitsplätze werden von Diakonie und Caritas zur
Verfügung gestellt. Warum eine Erzieherin eklatant weniger verdienen soll als
ein Gymnasiallehrer ist schleierhaft, wissen wir doch inzwischen, dass die
entscheidenden Weichenstellungen für emotionale Kompetenz und Lernkompetenz in
den ersten Lebensjahren gelegt werden.
Ziel kann nicht eine Entweltlichung der Kirche sein,
sondern eine mutige Einmischung von Christinnen und Christen in die Welt. Das
ist biblischer Auftrag, wenn Gerechtigkeit und Frieden als Ziele genannt
werden, wenn es heißt, wir begegnen dem Auferstandenen selbst, wo wir Gefangene
besuchen, Obdachlose behausen und Hungrige speisen.
3. Gewalt
Gewalt gegen Frauen ist tagtägliche Wirklichkeit.
Sietrifft Frauen jeder Kultur, jeder
Hautfarbe, jeder Einkommenshöhe – und übrigens auch unabhängig von ihrem Bildungsstand.
Fast 70 Prozent aller Frauen weltweit müssen in ihrem Leben Gewalterfahrungen
machen. Sie werden misshandelt, missbraucht, zum Sex gezwungen, gefoltert,
getötet. Jedes Jahr werden weltweit zwei Millionen Frauen ermordet – weil sie
Frauen sind.
In der „Ökumenischen Dekade Kirche in Solidarität mit den
Frauen“ war es immer wieder von zentraler Bedeutung und ebenso in der
„Ökumenischen Dekade Gewalt überwinden“, die im Mai in Kingston/Jamaika ihren
Höhepunkt und Abschluss gefunden hat. Die Dekade „Kirchen in Solidarität mit
den Frauen“, die 1985 auf der Tagung des Zentralausschusses in Buenos Aires
eingeleitet wurde, gab dazu entscheidende Impulse. Sie wurde 1988 gestartet und
fand ihren krönenden Abschluss 1998 auf der Vollversammlung des ÖRK in Harare.
Im letzten Jahr der Dekade fanden Teambesuche bei den Mitgliedskirchen statt.
Offizielle Delegationen von jeweils zwei Frauen und zwei Männern besuchten als
„Lebendige Briefe“ alle Mitgliedskirchen, um herauszufinden, wie die
Lebenswirklichkeit der Frauen in den Kirchen aussah. Das Ergebnis war deutlich:
Gewalt gegen Frauen ist ein zentrales Problem in der Mehrheit der
Mitgliedskirchen. Aus dem abschließenden Bericht über diese Besuche geht klar
hervor, dass viele Kirchen nicht bereit sind, etwas gegen dieses Problem zu
unternehmen:
-„Ein
Kirchenverantwortlicher berichtete, er habe seine Frau ‚diszipliniert’ und sie
habe ihm später dafür gedankt.“
-Mehrere andere
stellten die Definition von ‚Gewalt’ in Frage und wollten unterscheiden
zwischen Gewalt, die zum Tod führt, und „bloßem Schlagen“.
-„Die Kirchen
tragen Verantwortung für die ‚Gewalt des Schweigens’.“
Der Bericht machte eines deutlich: Gewalt ist nicht nur
ein Thema, das irgendwie „ draußen in der Welt“ aktuell ist; nein, es ist ein
Thema innerhalb unserer Kirchen, in unseren Beziehungen als Christinnen und
Christen. Auch in unserem Land und in unseren Kirchen bleibt es eine
Herausforderung. Für mich ist aber besonders wichtig, dass Frauen, die in
privilegierter Situation leben wie wir, anderen Frauen den Rücken stärken, die
Gewalt erleiden und gegen Gewalt mutig antreten. Eine Möglichkeit dazu ist die
Kampagne „FrauenStimmen gegen Gewalt“. Sie gibt Frauen in Mittelamerika
Unterstützung und eine Stimme, die den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen
versuchen.
Das Thema „Gewalt gegen Frauen“ bleibt auf der
Tagesordnung, auch in der Kirche.
4.Weltweite Ökumene
Die Welthungerhilfe hat gezeigt, dass Frauen weltweit 52
Prozent der Arbeitsleistung erbringen, aber nur 10 Prozent des Welteinkommens
erhalten und nur ein Prozent des Eigentums besitzen. Und gleichzeitig bedeutet
ein Jahr mehr Schule für ein Mädchen im Süden dieser Welt weniger Kinder und
mehr Chancen, sich selbst ernähren zu können. Hier liegen Herausforderungen,
auch im Gespräch mit unseren Partnerkirchen! Trauen wir uns, diese Themen offen
anzusprechen? Genitalverstümmelung, Vergewaltigung, Beteiligung von Frauen an
Besitz und Verantwortung? Sie sind in vielen Kirchen tabu, wir haben manches
Mal sehr patriarchalische Kirchenbilder exportiert, anstatt von der Freiheit
aller Kinder Gottes zu sprechen.
Die Lebenssituation von Frauen muss Teil des ökumenischen
Gespräches sein.
5. Interreligiös
Zusammenkommen an einem Tisch. Vielleicht können gerade
Frauen da eine Brück bauen gegenüber diesen Bildern von einem verächtlich
gemachten „multikulti“ und der als Drohkulisse aufgebauten „Leitkultur“. Das
Frauenmahl könnte ein guter Ansatzpunkt sein. Und da sind für mich als
Theologin biblische Motive immer wieder interessant. Es gibt in der Bibel ein
sehr eindringliches Bild, das ich hilfreich finde: die Gastfreundschaft. „Übt
Gastfreundschaft!“ fordert Paulus im Römerbrief (12,13) die christliche
Gemeinde auf. Und im Hebräerbrief (13,2) heißt es: „Vergesst die
Gastfreundschaft nicht!“, so die Einheitsübersetzung oder wie Luther übersetzt:
„Gastfrei zu sein, vergesst nicht!“ Die Züricher Bibel übersetzt das griechische
Original gar so: „Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, vergesst nicht!“
Und in der Tat, Gastfreundschaft ist ein hohes Gut und
ein gutes Bild für die Begegnung, das Miteinander Verschiedener, ja Fremder,
weil sie ein Beziehungsgeschehen ist, bei dem von Gastgebern wie Fremden
respektvoller Umgang miteinander erwartet wird. An einem Tisch können aus
Gästen und Gastgebenden, aus Nachbarn Freunde und Vertraute werden.
Im interreligiösen Dialog brauchen wir neue Bilder.
Frauen können und sollten sie mitprägen. Gastfreundschaft ist dafür ein guter
Ausgangspunkt.
So kann ich nur den Reformatoren Recht geben: ecclesia
reformata semper reformanda. Die Kirche der Reformation hat sich beständig zu
erneuern. Frauen können da große Gestaltungskraft entwickeln und gern auch mit
Männern kooperieren. Daher bin ich dafür, dass jetzt die Vorspeise kommt und
Martin, Du kannst sie uns gern auftischen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.