Prof. Dr. Regina Ammicht-Quinn – Staatsrätin a.D. für Interkulturellen und Interreligiösen Dialog, Privatdozentin für theologische Ethik am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften

Tübingen, 26.10.2011

Da ich nun die Ehre habe, hier als erste zu sprechen,
beginne ich mit einem Dank: Dank an die Einladenden und Gastgeberinnen, an Frau
Margenfeld, den Hausherren Herrn Drecoll, und an all diejenigen, die Arbeit,
Können und Kunst darauf verwerten,dass
wir nun ein wundervolles Abendessen bekommen werden.

Über das Essen und den Hunger davor gibt es eine
Geschichte, die für mich eine der Basisgeschichten des Christentums ist. Sie
steht in der Apostelgeschichte und handelt von Petrus, der am Dach seines
Hauses betet. Es ist vor dem Mittagessen, er vermutlich hungrig, unten im Haus
wird schon gekocht, und da sieht er in einer Vision eine große Schale vom
Himmel herab kommen, voll mit allen Arten von Kriechtieren und Vögeln, viele
davon unrein, möglicherweise alle. Und erhört eine Stimme, die sagt: „Schlachte
und iss!“. Und Petrus, trotz Hunger, wehrt entsetzt ab, denn, frommer Jude, der
er ist, hat er noch nie in seinem Leben etwas Unreines gegessen.

Das kommt uns heute etwas merkwürdig vor. Nicht nur
stehen auf der vielversprechenden Speisekarte des heutigen Abends solche
unreinen Tiere, sondern die Frage der kultischen Reinheit des Essens ist für
uns keine Kategorie mehr. Viel eher die Kalorienzahl.

Zugleich sind die Reinheitsfragen nicht einfach
verschwunden, sondern ausgewandert. Wir handeln unsere Reinheitsfragen nicht
mehr über das Essen und nur noch selten über Fragen der Sexualität ab. Aber
eine gewisse Obsession mit Hygiene können wir ja nicht verleugnen, wenn unsere
Körper, unsere Häuser eigentlich nicht nur sauber, sondern rein sein müssten.

Es gibt aber noch einen anderen Bereich, in den die
Reinheitsfragen ausgewandert sind: den Bereich der kulturellen Identität. Vor
gut einem Jahr ist Sarrazins Buch erschienen, und es wurde über baskische und
jüdische Gene diskutiert, über eine drohende „Unterschichtung“ der Gesellschaft
und darüber, ob der Islam zu Europa gehört.

Ein Teil dieser Verunsicherung, der hier einen Ausdruck
fand, liegt darin begründet, dass unsere Lebenswelt sich verändert, drastisch
verändert. Die Religionszugehörigkeit von Müttern ist nach wie vor das beste
Prognoseinstrument für gesellschaftliche Religionsentwicklung, das wir haben.

In größeren Städten wie Stuttgart gehört noch knapp über
die Hälfte der Mütter einer der großen Kirchen an, 17,5% dem Islam; ein knappes
Viertel bekennt sich zu keiner Religion (mehr). Aus dieser veränderten
Landschaft entsteht eine Identitätskrise des christlichen Abendlands: Wer sind wir,
wenn wir mit Menschen zusammen leben, die so anders sind als wir? Wer sind wir,
wenn Christen und Christinnen Religion häufig nur noch als Dekoration, nicht
mehr als Lebens-Basis anfragen? Wer sind wir, wenn wir neben uns Mitglieder
anderer Religionen sehen, die manchmal in einer Weise offen fromm sind, wie wir
früher waren – aber es nicht mehr sind?

In den Antworten auf die Krise sind Reinheitsfragen
versteckt: Der Wunsch, dass die Gesellschaft möglichst „unvermischt“ bleibt,
weil alles andere als weniger gut oder höchst problematisch wahrgenommen
wird.

Die Geschichte des Petrus ist aber mit seiner entsetzen
Weigerung nicht zu Ende. Und sie hat auch nicht dort angefangen. Sie beginnt
mit einer anderen Vision. Diese erste Vision wird nicht einem Jünger, sondern
einem heidnischen Kaufmann namens Kornelius gewährt, der offensichtlich dem
Judentum nahe steht, aber noch nicht übergetreten ist. Dem Kornelius erscheint
ein Engel, der ihm sagt, Gott habe seine Gebete erhört, und er solle nach
Petrus schicken. Während diese Boten noch unterwegs sind, betet Petrus und hat
seinerseits seine Vision. Derjenige, der sie ihm schickt, lässt nicht locker.
Nach der ersten Weigerung kommt die Schale noch einmal und noch einmal und
jedes Mal antwortet ihm die Stimme: „Was Gott für rein erklärt hat, nenn du
nicht unrein!“

Nun treffen die Boten des Kornelius ein, und Petrus geht
mit ihnen. Zu diesem Zeitpunkt, so die Logik der Apostelgeschichte, gab es noch
keine „Heiden“, keinen einzigen Nicht-Juden in der jungen Gemeinde. Man war
unter sich. Petrus trifft Kornelius, die beiden Visionen werden miteinander
verknüpft, und das Kapitel endet mit der ersten Taufe eines Heiden: „Ihr
wisst“, sagt Petrus, „dass es einem Juden nicht erlaubt ist, mit einem
Nichtjuden zu verkehren oder sein Haus zu betreten; mir aber hat Gott gezeigt,
dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf.“ (Apg 10, 28)

Gerade in den unüberschaubaren postmodernen Lebenswelten
gibt es eine große Sehnsucht nach Sicherheit und Kontinuität, die an alle gesellschaftlichen
Strukturen und Akteure herangetragen wird. Petrus wird zunächst grandios
verunsichert: Das, was er glaubte, scheint irgendwie nicht mehr zu passen. Für
Petrus erwächst aus dieser visionären grundlegenden Verunsicherung aber auch
die Basis einer neuen Sicherheit: Kein Mensch darf unheilig oder unrein genannt
werden.

Für die Zukunft wünsche ich mir von den Kirchen, den
Christinnen und Christen, dass sie dem Beispiel des Petrus folgen und den Wert
und die Würde dieser Verunsicherung zurück gewinnen. Aus dieser Verunsicherung
heraus können wir im Angesicht einer sich gravierend verändernden Gesellschaft
beginnen zu lernen, was es heißt, dass kein Mensch behandelt werden darf, als
sei er unheilig oder unrein -kein
Andersgläubiger, kein Ungläubiger, keine Fremde.

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