Tischrede zur Eröffnung des Studienzentrums für Genderfragen in Kirche und Theologie
Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann, Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und
Medien, Hannover
07. April 2014
These 1: Kultur, Kirche, Gesellschaft sind vielfältiger als es unter männlichen Kategorien scheint.
Als Leiterin des fmg (Forschungsstelle Musik und Gender) von Ihnen nach dem wissenschaftlichen Gewinn der Genderperspektive in meinem Fach, der Musikwissenschaft gefragt, habe ich die vergangenen zwei Jahrzehnte überdacht. Als ich seinerzeit auf diesem Gebiet zu arbeiten begann, stand nach wie vor die Suche nach den in der Geschichtsschreibung verlorenen Frauen im Vordergrund. Es gab sie ja immer, die Frauen, die Kultur mit gestaltet haben. Aber wir wussten nur wenig von ihnen. Wir suchten letztlich mit männlichem Blick, d.h. genau mit jenen Perspektiven, die wir im Wissenschaftssystem von Männern gelernt hatten.
Und in das Glück des Findens, der Wiederfindens von Komponistinnen, mischte sich immer Enttäuschung, denn das große herausragende (weibliche) Genie, um die männlichste aller männlichen Kategorien aufzurufen, fanden wir eben nicht. Es bedurfte eines Perspektivwechsels, um den wirklichen Anteil von Frauen in Kultur, Bildung, Gesellschaft zu erkennen.
Für mich hat das drei grundlegende Fragestellungen ins Zentrum meines Denkens gerückt, durch die kulturwissenschaftliches Denken tatsächlich verändert wurde – und das sind die Fragen nach dem Raum, nach dem kulturellen Handeln und die Ausprägung von Memorik-Sensibilität.
Raum: Jedes Kind beginnt Geschichten zu erzählen, die mit „und dann“ der Zeit folgen. Das zieht sich bis hin zur wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Auch sie erzählt im Wesentlichen Fortschritts- und Modernisierungsgeschichte. Die Zeit, so denken und erleben wir, steht für Veränderung und Dynamik, während der Raum einfach so da zu sein scheint.
Aber: Gesellschaftliche Dynamik war und ist angewiesen darauf, dass Menschen in neue Räume aufbrechen, dass sie gegebene Räume verlassen. Das ist dem Lebenslauf von Frauen immer eingeschrieben gewesen: sie waren diejenigen, die mit der Heirat das elterliche Haus verließen, sie sind diejenigen – wie die Stadtsoziologie ins Bewusstsein gebracht hat, die ‚mobiler’ sind, nämlich auf netzartigen Wegen zwischen Haus, Kindergarten, Einkauf, Arbeit o.ä. unterwegs, während sich Männer eher auf linearen Wegen zwischen Haus und Arbeit bewegen.
Einen gewohnten Raum zu verlassen, setzt enorme Kräfte frei, da man das Eigene und das Andere/Fremde reflektieren muss: Verlässt frau den Raum der Herkunft und bricht in einen neuen Raum auf, führt das zu einem Hinterfragen der eigenen Kultur, der bisherigen Gebräuche, etwa wie man Feste oder Andachten feiert.
Kulturelles Handeln: Wird von diesen Einsichten der Blick auf die Räume gelenkt, so entdeckt man plötzlich die vielen kulturell handelnden Frauen, die aus der Erinnerung herausgefallen sind. Auf die Musik bezogen waren und sind ja nicht nur Komponistinnen, Musikerinnen, Sängerinnen für die musikalische Kultur wichtig: Jede musikalische Kultur wird von Menschen in bestimmten Räumen initiiert, realisiert, rezipiert, tradiert. Sie bildet sich immer als System von vielen AkteurInnen: Hörerinnen (sei es im Konzerthaus oder in der Kirche), Frauen, die musikalische Bildung weitergeben (sowohl Kinder erziehende Mütter als auch Lehrerinnen), Mäzeninnen, die die musikalische Kultur fördern, Sammlerinnen usw. kommen in den Blick und lösen Verblüffung darüber aus, wie wenig Wissen über ihr musikbezogenes kulturelles Handeln im kulturellen Gedächtnis erhalten geblieben ist.
These 2: Frauen waren immer starke Akteurinnen für Gesellschaft, Kirche und Kultur, aber wir haben viele ihrer Möglichkeitsräume übersehen. Aus dem Übersehenen lässt sich reformierende Kraft schöpfen.
Memorik-Sensibilität: Das Begreifen, dass die männlichen Kategorien – auch im Denken von Frauen – so dominant sind, dass z.B. Möglicheitsräume übersehen werden, löst Sensibilität bezüglich dessen aus, was erinnert wird, was nicht erinnert wird. Texte (nehmen wir etwa die Bibel) und Werke (nehmen wir etwa Beethovens 9. Symphonie) werden erinnert, die Praxis des Bibel-Lesens zu einer bestimmten Zeit oder die Praxis der in Hausandachten gesungenen Lieder dagegen geraten in Vergessenheit. Und dabei haben künstlerische Artefakte, die so sehr auf den Sockel gehobenen Meisterwerke, ohne Praxisformen (musikalische Aufführungen, Singen, Sammeln, Drucken, Lesen) keine Lebenschance. Ist einmal die Sensibilität bezüglich des Erinnerns angestoßen, dann steht man mitten im Spannungsfeld von kultureller Erinnerung und Kanonisierung. Der Kanon von Wissen und Kultur, das Wichtige in Kirche und Gesellschaft – all das hat sich herausgebildet, indem zugleich anderes aus der Erinnerung herausfiel, unwichtig wurde.
These 3: Eine gender-orientierte Sensibilität des Erinnerns verflüssigt Erstarrtes und löst Prozesse des Neu-Aushandelns von Werten aus.
100 Jahre nach dem Beginn de Ersten Weltkriegs und in der momentanen politischen Brisanz durch die Krim und Ukraine, greife ich hier, Gender als neuen kategorialen Rahmen verstehend, durch den sich auch das Verstehen der Männer-Rollen ändert, das Beispiel der Tafel mit den Gefallenen auf, die in den Kirchen durch ganz Europa hängen – und Ausdruck eines kolossalen Auseinanderfallens weiblichen und männlichen Erinnerns an Traumatisierungen sind, die sich in die Familien in allen beteiligten europäische Ländern eingeschrieben haben. Es ist ein schwerwiegendes Beispiel für das, was unter der Gender-Perspektive reformiert, in eine neue Form gebracht werden kann, Ma(h)l anders gestaltet werden kann.
Dem Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie wünsche ich auf diesem Wege Tatkraft, einen klugen Verstand und guten Geisteswind.