Prof. Dr. Ulrike Kostka – Diözesancaritasdirektorin Caritasverband Erzbistum Berlin

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Frauen übersteigen Mauern
Zusammen leben auf sozialer und wirtschaftlicher Augenhöhe
Prof. Dr. Ulrike Kostka
„Frauen reden zu Tisch“ am 30.10.2016 in der Ev. Akademie zu Berlin
 
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
 
ganz herzlich danke ich Ihnen für Ihre Einladung. Es beeindruckt mich sehr, wie viele Frauen aus unterschiedlichen Ländern, Konfessionen und Berufsgruppen hier gemeinsam den Abend in diesem schönen Ambiente verbringen. Dieser Abend am Vortag des Reformationstages steht auch für diese Stadt Berlin, wo so viele unterschiedliche Menschen, Religionen und Kulturen recht friedlich miteinander leben.
 
Er steht auch ein bisschen für meine eigene Familiengeschichte. Denn meine Vorfahren kamen zum Teil als Hugenotten aus dem Elsass nach Berlin, waren reformiert, brachten viele evangelische Pfarrer hervor. Meine Mutter war evangelisch, landete als Flüchtling in Celle auf der katholischen Schule und wollte dann wie alle aus ihrer Klasse auch zur Erstkommunion gehen.
Dadurch sind wir u.a. katholisch geworden. In Berlin habe ich noch nie so viel wie in meinem bisherigen Leben evangelische Gottesdienste erlebt und eine intensive Zusammenarbeit der Konfessionen. Durch Susanne Kahl-Passoth, meine evangelische Pastoren- und Diakoniefreundin, übersteige ich auch die Hürden, die evangelische Liturgie zu verstehen und finde sie langsam heimatlicher.
Ich erzähle das nicht, um meine Familiengeschichte auszubreiten, sondern um hervorzuheben, wie sehr unsere Identität durch unsere eigene Geschichte und Kultur geprägt, die uns vertraut ist und die sich zugleich im Laufe unseres Lebens erweitert und sich immer wieder neu zu einem Ganzen zusammenfügt.
 
Prägend für unsere Identität ist auch die Situation, was man uns als Kind zugetraut und zugemutet hat. Ich hatte das Glück, dass ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, wo meine Eltern meinen Bruder und mich immer schon als Gesprächspartner bei Diskussionen ernst genommen und uns zugetraut haben, unsere Träume zu verwirklichen – auch wenn sie nicht immer begeistern von dem jeweiligen Traum waren. In unserer Pfarrgemeinde war es möglich, egal ob Mädchen oder Junge Kirche mitzuentwickeln und Leitungsverantwortung zu übernehmen. Erst später war ich überrascht, dass das gar nicht so in meiner Kirche auf den verschiedenen Ebenen vorgesehen war. Zum Glück gibt es auch dort Bewegung.
 
Unser Selbstbild hängt also wesentlich davon ab, was uns in der Kindheit und Jugend geprägt hat. Um so schwieriger ist es, dass Berlin trotz aller Fortschritte immer noch die Hartz-IV-Hauptstadt ist und so viele Kinder von Hartz IV leben. Für viele Kinder bedeutet dies nicht nur materielle Armut, sondern auch eine schlechte Wohnsituation, höhere Gesundheitsrisiken und weniger Bildungschancen. Ich erlebe durchaus, dass sich Familien im Hartz-IV-Bezug darum bemühen, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
 
Doch oft erleben sie als Eltern selbst eine jahrelange Beschämungsgeschichte, weil der Jobcenterbescheid mal wieder unverständlich ist oder sie immer wieder um ihre Rechte kämpfen müssen. Manche richten sich auch in ihrer Situation ein. Viele erleben auch, dass sie trotz mehrerer Jobs immer noch Geld vom Amt brauchen.

Viele Kinder aus diesen Familien sagen schon in der zweiten Klasse: „Ich kann doch nur Hartz IV.“ Oder sie träumen davon Popstar oder Germanys Next Top Model zu werden. Das wird nicht jedem gelingen.
 
Diese Kinder können dann Mauern überspringen, wenn man ihnen etwas zutraut, wenn die Beschämungsgeschichte ihrer Familien nicht einfach fortgeschrieben wird. Die Forschung zeigt, es braucht bei diesen Kindern, nur einen Erwachsenen, der ihnen etwas zutraut, sie auch fordert und sie unterstützt. Natürlich braucht es auch strukturelle Rahmenbedingungen wie ein gerechteres Bildungssystem, außerschulische Jugendarbeit und eine eigenständige Kindergrundsicherung. Und es braucht eine umfassende Strategie gegen Kinder-, Frauen- und Familienarmut als gemeinsame Priorität einer neuen Landesregierung.
 
Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie die Kinder aus benachteiligten Familien, die bei unserem Caritas-Kinderopernprojekt mit der Staatsoper unter den Linden, aufblühen, wenn sie mit Kindern aus der Mittelschicht gemeinsam auf der Bühne stehen und zu kleinen Opernhelden werden. Sie haben mit Hilfe von Musikpädagogen und Sozialarbeiter erlebt, dass sie etwas können. Klar – sie haben oft keine Ahnung von klassischer Musik – anders manchmal als Kinder aus Anwalts- oder Pfarrersfamilien. Sie fragen auch mal, ob der Herr Händel mal vorbeikommen könnte, wenn er schon so eine merkwürdige Musik schreibt.
 
Aber sie nehmen etwas mit aus dieser Zeit, das sie prägt. Sie erleben eine Zutrauensgeschichte.
So ähnlich sehe ich das auch im Hinblick auf die vielen Frauen und Männern, die als Geflüchtete zu uns kommen. Wer sie immer nur als Problem und mögliche Integrationsverweigerer sieht, schreibt an einer Beschämungsgeschichte mit.
 
Viele Frauen haben in ihrem Heimatland schon viel verloren – auch oft das Zutrauen in ihre Mitmenschen, in die Zukunft und in sich selbst. Sie brauchen nicht immer mehr Schikanen durch neue Regelungen, sondern Zugang zu Bildung, Arbeit und Normalität. Unvergessen sind für mich die Augen vieler junger Frauen, die letztes Jahr mit ihren Kindern, frierend am Landesamt für Gesundheit und Soziales standen. Wie tapfer haben sie die Situation ertragen und wie sehr haben sie immer zuerst danach geschaut, was ihre Kinder brauchen. Frauen sind stark – auch geflüchtete Frauen. Deshalb müssen sie mindestens genauso im Mittelpunkt aller Integrationsbemühungen stehen wie andere Gruppen. Und wir müssen Ihnen als Gesellschaft etwas zutrauen.
 
Dazu müssen wir aber auch Mauern unserer eigenen Vorurteile überwinden. Ich erlebe viele tolle und mutige Frauen mit Kopftuch – wir haben gerade eine junge muslimische Auszubildende bei der Caritas, die souverän ihre Arbeit macht und zu ihrem Glauben steht. Natürlich gibt es auch Frauen mit Kopftuch oder Schleier, die Unterdrückung erleben. Aber machen wir nicht jede durch unsere eigenen Vorstellungen zu einem Opfer und zu einem Neutrum, das nur aus ihr Kopftuch besteht. Da ich als junge Frau Ordensschwester werden wollte und ein Jahr im Kloster lebte, weiß ich genau, dass Frauen mit Schleier höchst individuell sind und ganz unterschiedliche Typen sind. Hier müssen wir selbst Mauern überwinden und Frauen mit muslimischen Glauben und Kopftuch auf Augenhöhe begegnen.
 
Zur Zeit erleben viele Menschen in Deutschland eine Verunsicherungsgeschichte. Dies ist auch in anderen Ländern zu spüren. Menschen haben Angst vor der Zukunft, vor Überfremdung, vor sozialem Abstieg oder dem Verlust des Gewohnten. Manche individuelle Angst ist verständlich und erfordert sozialpolitisches Handeln, wie der Kampf gegen Altersarmut gerade bei Frauen.
Viele befinden sich in einem Dienstleistungsprekariat oder in sozialen Nöten durch Scheidung, unterbrochene Arbeitsbiografien. Aber was wir brauchen ist auch eine Haltung gegen Verunsicherung. Diese fängt bei unserer eigene Wahrnehmung an. Schwierigkeiten und Probleme müssen benannt werden, aber Fortschritte und Entwicklungen sollten auch akzentuiert werden. Denn am gefährlichsten ist nachgewiesener Weise, wenn sich die Mittelschicht abgehängt fühlt. Dann grenzt sie sich nach unten oder gegen andere Gruppen ab.
 
Politisches Handeln ist mühsam, soziale Fortschritte ist eine „Politik der kleinen Schritte“ wie Professor Georg Cremer, der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, in seinem neuen Buch zum Thema „Armut in Deutschland“ schreibt. Es kommt jetzt darauf an, dass Unmut nicht nur denen überlassen wird, die daraus ihre politischen Machenschaften ziehen. Sondern wir müssen untereinander ins Gespräch kommen – auch mit Menschen, die sich abgehängt fühlen oder einfach verunsichert sind. Aber wir sollten auch dabei zu den Hoffnungen stehen, die uns tragen. Es geht nicht um einen naiven Optimismus, sondern um Differenz in der Wahrnehmung und der Position!
Im Lukasevangelium heißt es: „Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen.“ (Lk 12,48b).
Ich glaube, jedem ist viel anvertraut. Wir dürfen dies als Ermutigung verstehen. Gott traut uns viel zu – auch als Gesellschaft, als globale Gemeinschaft und als Individuum. Damit können wir Mauern übersteigen!

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