Ruth Heß – Theologin und Gleichstellungsbeauftragte der Bremischen Evangelischen Kirche

Oldenburg, 31.10.2012

Christianity is a Queer Thing!

1.

In ihrer Ankündigung haben die Veranstalterinnen uns für die Tischreden drei Leitfragen vorgeschlagen:

Welche gesellschaftlichen Herausforderungen halte ich gegenwärtig für besonders drängend?

Welche Impulse für die Gesellschaft erwarte ich von der Kirche angesichts dieser Herausforderungen?

Welche reformatorische These folgt für mich daraus?

Ich beginne mit der letzten. Denn mit dem Ende anfangen – das ist eine Methode, die mir als Theologin, wie ich sie mit Leib und Seele bin, ohnehin nahe liegt. Dazu später mehr.

Zuerst also meine »reformatorische These«. Sie lautet: Christianity is a Queer Thing! Ins Deutsche übersetzt in etwa:

Mit dem christlichen Glauben ist es eine ganz schön ver_rückte Sache – nicht zuletzt was unsere menschliche Geschlechtlichkeit betrifft! Ich leihe mir die Formulierung von Elizabeth Stuart, einer anglikanischen Theologin, die an der Universität Winchester in Großbritannien lehrt und als eine der prägenden Gestalten der sog. Queer Theology gelten kann.

Christianity is a Queer Thing! Mit dem christlichen Glauben ist es eine ganz schön ver_rückte Sache – nicht zuletzt was unsere menschliche Geschlechtlichkeit betrifft! Warum ausgerechnet diese These? Eine These, die nicht bei den »gesellschaftlichen Herausforderungen« einsetzt, sondern bei Kirche selbst. Und eine These, die ein Thema aufgreift, das viele Menschen wahrscheinlich nicht als »besonders drängend« erachten, sondern ganz im Gegenteil für das Allerselbstverständlichste – ihr Geschlecht.

Ich habe dennoch diesen Fokus gewählt, weil mir scheint, dass wir mit ihm vor dem gegenwärtigen Konfliktherd Nummer 1 zwischen Kirche und Welt stehen. Um Ihnen das plastisch zu machen, zwei Zitate:

Zunächst – Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI. Noch als Präfekt der römisch-katholischen Glaubenskongregation formulierte er 2004 in einem ›Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt‹: »Mann und Frau sind von Beginn der Schöpfung an unterschieden und bleiben es in alle Ewigkeit.« In diesem Sinne trat er für die Pflege »fraulicher[r] Werte« und die traditionelle Ehe ein und wandte sich rigoros gegen jedwede »Infragestellung der Familie, zu der naturgemäß Eltern, also Vater und Mutter, gehören«, gegen »die Gleichstellung der Homosexualität mit der Heterosexualität«, gegen »ein neues Modell polymorpher Sexualität«. Nur zur Erinnerung: Rom hat keineswegs ein Monopol auf diese Art Stellungnahme. Sie findet sich ganz analog auch im protestantischen Bereich.

Auf der anderen Seite – Rose Tremains Roman ›Die Umwandlung‹, auf Deutsch erschienen 2003. Er schildert eindringlich den Lebens- und Leidensweg eines Menschen, dessen Existenz die uns vertraute Unterscheidung von männlich und weiblich sprengt. Am Ende der langen Reise wird aus Mary Ward Martin Ward geworden sein. Ich lese Ihnen eine Schlüsselszene vom Anfang des Romans:

»Und dann fühlte sich Mary bei dem Gedanken, wie sie auf dem Feld warteten und der Schnee auf sie fiel, so dass sie ganz weiß wurden, auf einmal merkwürdig erregt, als würde gleich etwas mit ihr geschehen, was seit Menschengedenken noch nie mit jemandem in Suffolk oder auf der ganzen Welt geschehen war. […] Und dann, als vom Bauernhof her das vertraute Krächzen ihres Perlhuhns zu ihr drang, dachte sie: Ich habe eine Neuigkeit für dich, Marguerite, ich habe ein Geheimnis, das ich dir anvertrauen möchte, mein Liebling. Ich bin nicht Mary. Das ist ein Irrtum. Ich bin kein Mädchen. Ich bin ein Junge.«

»Mann und Frau sind von Beginn der Schöpfung an unterschieden und bleiben es in alle Ewigkeit.« – »Ich bin nicht Mary. Das ist ein Irrtum. Ich bin kein Mädchen. Ich bin ein Junge.« In ebendieser Spannung zeigt sie sich, die Büchse der Pandora zwischen Kirche und Welt. Viele Menschen leben als Frau oder Mann, in einer traditionellen Familie. Was immer das heißt, es verdient Wertschätzung, ohne Zweifel! Immer mehr Menschen leben aber auch vollkommen anders: in alternativen Lebensformen, in den ungewöhnlichsten Fürsorgekonstellationen, zwischen den herkömmlichen Geschlechtergrenzen. Und wie reagiert Kirche mehrheitlich darauf? In der Regel, so stellt es sich mir wenigstens dar, wahlweise mit aggressiver Abwertung oder mit angstvoller Indifferenz.

Warum haben sich Christentum (ja Religion überhaupt) und Geschlechtlichkeit – Sexualität, Lebensformen, Geschlechterordnung – so eigentümlich ineinander verhakt? Warum konnte das Bekenntnis zur Heteronormativität quasi zum articulus stantis et cadentis ecclesiae werden, zum Eckstein, mit dem Kirche anscheinend steht und fällt.

Diese ebenso interessante wie komplexe Frage lasse ich für jetzt beiseite und wende mich stattdessen dem Visionären zu.

2.

Christianity is a Queer Thing! Was ist damit gesagt?

Zunächst das erste Stichwort – queer. Das englische Wort geht kurioserweise ursprünglich auf ein deutsches zurück, nämlich das Wortfeld quer, verquer, querch im Sinne von verrückt, komisch, anomal, pervers. Zugleich fungierte es als Schimpfwort für schwule Männer. Mit den politischen Bewegungen seit 1968 erfuhr der Begriff dann aber eine positive Wiederaneignung durch Lesben und Schwule selbst, später auch durch Bisexuelle und Trans- und Inter- Menschen, die auf die eine oder andere Art die Pole männlich und weiblich überschreiten. Ihnen wurde queer zur offensiven Selbstbezeichnung: We’re here, we’re queer, just get used to it! Wir sind hier, wir sind queer, gewöhnt Euch einfach daran! In einer weiteren theoretischen Reflexion avancierte queer schließlich zum Signum für eine Haltung, die sich gegen Normalisierungen aller Art richtet und insbesondere eingeschliffene Zweiteilungen in Frage stellt: in erster Linie die strikte Gegenüberstellung männlich/weiblich sowie hetero-/homosexuell; darüber hinaus aber auch solche wie schwarz/weiß, arm/reich, oben/unten, innen/außen, gut/böse, eigen/fremd, rein/unrein, klar/unklar etc. pp. Das exakte Gegenprogramm also zum Ratzinger’schen Bannspruch.

Das Erstaunliche ist nun aber, dass das Christentum in seinen Anfängen und darüber hinaus dem Verqueren und Antinormativen, wie queer es zur Aufführung bringt, gar nicht so unähnlich sieht. Da wird nämlich äußerst intensiv über Identität verhandelt – auch über Geschlechtsidentität, Männlichkeit, Weiblichkeit und einiges mehr. Und in wenigstens einem der christlich zahlreichen Diskursstränge, die schon im Neuen Testament in-, neben- und gegeneinander liegen, offenbart sich wahrlich alles Andere als der bürgerliche Wertehimmel, sondern vielmehr eine geradezu atemberaubende Umwertung aller Werte. Denn das Hineingenommenwerden in den Leib Christi bedeutet demnach für die Getauften nichts Geringeres als – neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2Kor 5,17). Hier, in ihrer GOTTeskindschaft, liegt von nun an ihre Identität, nirgends sonst. Nicht in irgendeinem Winkel ihrer selbst, sondern geschenkt von GOTT und ganz und gar von außen verbürgt (Gal 2,20). Ja, die grundstürzende Kraft jener Neuschöpfung transformiert alle hergebrachten Kategorien und Hierarchien, selbst die gut geschaffene Zweigeschlechtlichkeit:. Alle nämlich, die ihr in Christus hineingetauft wurdet, ihr habt Christus angezogen. Darin ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich und weiblich. Denn Ihr alle seid Einer in Christus Jesus (Gal 3,27f.). Nunmehr sind wir ein Leib und zugleich dessen viele Glieder, die ebenbürtig zusammenwirken (1Kor 12,12-27).

Von hier aus ergeben sich diverse und sehr konkrete Fragen. Etwa die nach Ehe – ja oder nein? Der heilige Apostel Paulus meint: Tja, wer nicht anders kann, aber besser wäre es an sich ohne … (1Kor 7,6ff.). Der Jesus der Evangelien propagiert eine Relativierung von Familienbanden, wie sie sich radikaler kaum denken lässt: Wer zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern und dazu auch das eigene Leben hasst, kann nicht mein_e Jünger_in sein (Lk 14,26). Und etabliert umgekehrt eine ganz neue Art von tragender Gemeinschaft jenseits der Blutsverwandtschaft: Wer den Willen Gottes tut, der [und die und das] ist mir Bruder und Schwester und Mutter (Mk 3,35).

Im Hintergrund all dessen steht eine ausgesprochen kühne Vorstellung, dass nämlich GOTT und Menschen noch miteinander unterwegs sind – in Richtung einer offenen Zukunft, eines weiten Raums. Was für ein mythischer Gedanke! Eine Provokation für uns Säkulare. Was für ein realistischer Gedanke! Eine Wohltat für uns Neurotische. GOTT hat mit sich selbst und mit dem ganzen Kosmos, mit uns und sogar mit unserer Geschlechtlichkeit unter Umständen noch etwas ganz Neues vor. Wir brauchen uns nicht so sehr zu sorgen. Wir müssen nicht über alles und jedes Bescheid wissen und Bescheid geben. Wir dürfen vom Ende her glauben und uns selbst und Andere im gnädigen Licht dessen sehen, was von GOTT her noch auf uns wartet. Mit einem Wort: Christianity is a Queer Thing! Eine ganz schön ver_rückte Sache!

3.

Ich habe einen Traum. Den Traum von einer Kirche, die der Welt schlicht ihr Bestes gibt. Weder dogmatistische    

Besserwisserei noch moralinsaure Verkniffenheit (und seien beide noch so wohlmeinend), sondern den wirklich aufregenden Kern ihrer guten Botschaft: Zur Freiheit hat uns Christus befreit (Gal 5,1)! In Freiheit dürfen wir  voreinander und vor GOTT stehen. Parrhesia, Freimütigkeit! Andersherum formuliert: Ich träume von einer gutgelaunten Combo aus GOTTeskindern, die sich ebenso gelassen wie demütig das legendäre Spottwort Friedrich Nietzsches an ihre Kirchentüren schlagen lässt, ob in Wittenberg oder in Oldenburg: »Bessere Lieder müssten [die Christ_innen] mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne; erlöster müssten mir seine Jünger[_innen]  aussehen!«Vielen Dank!

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