Karlsruhe, 24.06.2012
In Augenhöhe mit dem Fremden
Shalom an dieses "Frauenmahl der Tischreden" !
Ich möchte Sie alle kurz an einen anderen Tisch einladen.
An einen Tisch, an dem ein streng ritualisiertes Mahl geführt wird, mit
Erzählung und Gesängen, Fragen und Liedern, von Generation zu
Generation, wie es heißt. Sie ahnen wahrscheinlich schon, um welches
Mahl es sich handelt… Nun, es ist das Pessachfest, das jüdische
Osterfest. Dieses Mahl – wie kein anderes Festmahl des religiösen
Judentums – wird in einer fest vorgegebenen Tischordnung gehalten.
Das Buch, das eine Art Regie führt, die Haggada, erzählt weit, in
epischer Breite den Auszug der "Kinder Israel" aus Ägypten. Begleitet
wird dieses Erzählen von Speisen, die jeweils die Etappen der Erfahrung
in Ägypten symbolisieren sollen. Dieses Erzählen muss so lebendig, so
intensiv wie möglich gestaltet werden – deshalb wird nach der
rabbinischen Anordnung der Haggada zum Anfang die entscheidende
Initialfrage vom Jüngsten in die Runde gestellt. Seine Frage an alle
Anwesenden lautet:
"Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? "
Die Rabbinen haben dieser Frage noch einmal – mit Nachdruck – die
Anordnung hinzugefügt:
" In jeder Generation ist ein Mensch verpflichtet, sich selbst so
zu betrachten, als wäre er selbst aus Ägypten ausgezogen ".
Gefordert wird hier, den Auszug aus Ägypten in einer Art und Weise zu
erzählen, die nicht bloß die historischen Fakten wiedergibt, sondern ein
sehr persönliches, lebendiges und verinnerlichtes Wiedererleben dieser
Erinnerung ermöglicht. Man versteht, welch große Bedeutung dieses
alljährliche Festmahl für das jüdische Selbstverständnis, für die jüdische
Tradition hat. So wird die Erfahrung in Ägypten auch immer wieder
angeführt, um das eine oder das andere Gebot oder Gesetz zu
begründen. In direkter Beziehung zu dieser Erfahrung, ein Fremder
gewesen zu sein, heißt es dann im Levitikus (19. Kapitel,Verse 34 und
35):
" Wenn ein Fremder bei euch wohnt, in eurem Land, den sollt ihr nicht
bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch,
und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid Fremdlinge
gewesen in Ägypten ".
Hier wird also ein grundlegendes Gebot allein auf der Grundlage der
ägyptischen Erfahrung festgeschrieben. Das Thema, die Problematik des
Fremden, wird im biblischen Kontext nochmals in seiner ganzen Breite
im Buch Ruth aufgenommen.
Ruth, die Moabiterin, die Fremde, folgt ihrer verwitweten
Schwiegermutter Noemi nach Judäa und spricht folgenden, sehr
prägnanten Satz (1.Kapitel,Vers 16-17):
" Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe
auch ich, dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott ".
Im 20. Jahrhundert sind es dann Hannah Arendt, Sigmund Freud und
Emmanuel Levinas, die sich – wie aus einer verborgenen Tradition –
dem Motiv des "Fremden" zuwenden.
Hannah Arendt wird die historisch-politische Dimension des bewussten
Paria, des "Fremden" in einer Gesellschaft, des Rebellen
hervorheben.Sie schreibt in ihrem Buch "Die verborgene Tradition" ,
der Paria werde "zum Vertreter eines unterdrückten Volkes, das seinen
Freiheitskampf in Verbindung mit den nationalen und sozialen
Freiheitskämpfen aller Unterdrückten Europas führt ".
Emmanuel Levinas wird im "Anderen ", mir allein wegen dessen
Antlitzes Fremden, eine Herausforderung sehen wollen; eine
Herausforderung, die mich in die Verantwortung für ihn, den mir
Fremden setzt. Er schreibt, dass " das Ich Stellvertreter, ja, Geisel des
Anderen ist ".
Levinas erteilt hier in seinen Überlegungen der Indifferenz dem
"Anderen" gegenüber eine deutliche Absage: Im Antlitz des Anderen,
des Fremden sehen wir unser eigenes, erfahren wir uns selbst!
Sigmund Freud wird in seiner Anschauung von dem Bewussten und
dem Unterbewussten das uns fremde Unterbewusstsein in unser eigenes
Selbst zurückführen. Diese aktive Erinnerung an das "Fremde in uns"
wird für ihn der Königsweg zum Bewusstsein, zum positiven Umgang
mit diesem Fremden werden.
Julia Kristeva schreibt in ihren Überlegungen "Fremd sind wir uns
selbst" zu diesem Problem:
" Der Fremde ist in uns selbst, und wenn wir vor dem Fremden fliehen,
fliehen oder ihn bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewusstes".
Und weiter unten fügt sie an, er, Freud, " lehrt uns, die Fremdheit in uns
selbst aufzuspüren. Das ist die einzige Art, sie draußen nicht zu
verfolgen ".
Zwar durchläuft die "ägyptische Erfahrung" der Israeliten in diesen
Stimmen eine aufgeklärte Wende in die allgemeine Erkenntnis der
menschlichen Natur, und doch schwingt hier die Erfahrung und das
Erinnern an das Fremdsein in Ägypten verborgen mit.
Zurück zu unseren Durlacher Tischreden!
Ich möchte Sie abschließend kurz mit dem Karlsruher "PatinnenProjekt"
bekannt machen. Dieses Frauenprojekt – es ist im ibz, dem
Internationalen Begegnungszentrum an der Kaiserallee 12 d, beheimatet
– will die persönliche Begegnung zwischen in Karlsruhe beheimateten
Zuwanderern – Fremden eben – und karlsruher Frauen fördern. Und das
als eine Begegnung auf Augenhöhe. Gegründet wurde das
"PatinnenProjekt" im Jahre 2003 – wohl als Reaktion auf die
mörderischen Anschläge in Mölln, Solingen, Hoyerswerda und
anderswo. Vielleicht erinnern Sie sich, dass es damals auch in der
karlsruher Südstadt einen – glücklicherweise missglückten –
Anschlagsversuch gab. Die Aktivitäten des "PatinnenProjekts" finden
hauptsächlich auf zwei Ebenen statt. Einmal treffen wir uns alle in der
gesamten Gruppe, zum anderen sieht sich das "Tandem" regelmäßig
nach eigener Entscheidung: Das ist ein Treffen zwischen der karlsruher
Patin und einer eingewanderten Frau, ob sie nun die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Außerdem gibt es im
"PatinnenProjekt" noch andere Begegnungsmöglichkeiten, wie
gemeinsame Ausflüge, gemeinsame Schreib- und
Konversationsgruppen usw., ja, es gibt sogar einen richtigen
Literaturzirkel. Einzige Vorbedingung im "PatinnenProjekt" sind
ausreichende Deutschkenntnisse, um eine solche Begegnung möglich zu
machen.
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat schließen, in dem eines
unserer Mitglieder ihre sehr persönliche Erfahrung treffend beschreibt:
"Ich kann nun viele Fragen stellen, die den deutschen Alltag betreffen
und ich bekomme immer Antworten. Mein Leben ist inhaltsreicher und
sinnvoller geworden."