Tischrede beim Frauenmahl in Goeppingen am 29. April 2017
Simone Helmschrott, Theologin, Islamwissenschaftlerin, Lektorin der Robert-Bosch-Stiftung
Frauen. Bewegen. Vielfältig.
Wenn ich in Deutschland bin, darf ich dann frei sprechen?
So die Frage einer damals 21jährigen Yezidin, einer religiösen Minderheit im Nordirak, 2015. Sie war eine der 1000 Frauen und Kindern, der Baden-Württemberg in einem Modellprojekt einen neuen Start in Deutschland ermöglichen konnte. Von März 2015 bis Januar 2016 sind insgesamt 15 Flugzeuge von Erbil nach Stuttgart geflogen. Ein magischer Moment, wenn sie auf deutschem Boden aufsetzen. Neuanfang. Sicherheit. Freiheit. Sie war eine von ihnen, und stellte diese Frage: Wenn ich in Deutschland bin, darf ich dann frei sprechen? Danach hat sie sich gesehnt, das spricht aus ihrer Frage. Akzeptanz. Das war keine Selbstverständlichkeit: Beinahe alle der aufgenommenen Frauen haben Gefangenschaft des sog. „Islamischen Staates“ erlebt. Sie haben die höchsten psychischen und physischen Schmerzen durchlitten, die man Menschen – und Frauen – antun kann. Ein großes Tabu, auch in ihrer Community. Noch immer arbeiten meine Kolleginnen und ich im Staatsministerium daran, ihnen Perspektiven für die Zukunft zu ermöglichen. Und ihnen zu ermöglichen, eine Stimme zu haben.
Wenn ich in Deutschland bin, darf ich dann frei sprechen?
Das hätte mich auch Sara fragen können. Sie ist 17, Schülerin erst, als ich sie 2015 kennenlerne in Fergana, einer Provinzstadt in Usbekistan. In die Hauptstadt braucht man an guten Tagen 5 Stunden im Sammeltaxi, an schlechten auch mal acht. Kultur, Inspiration, Horizonterweiterung sind Mangelware. Bei unserem ersten Gespräch fragt sie mich, ob ich ihr etwas über Beschneidung an Frauen in Afrika erzählen könne, das interessiere sie, da wolle sie mehr zu wissen. Für eine 17jährige Deutsche wäre das schon eine bemerkenswerte Aussage. Als Usbekin lebt Sara aber in einem Staat, der gerne darüber bestimmen möchte, wofür man sich interessieren darf. Das Schul- und Universitätscurriculum ist durchzogen von nationaler Wahrheitsvermittlung. Alternative Fakten: Allgegenwärtig. Das Magazin Der SPIEGEL ist in der staatlichen Bibliothek, in der wir uns jede Woche zum Diskussionsclub treffen, unerwünscht. Und Beschneidung an Frauen in Afrika ist ebenso ein Tabuthema wie Sexualität oder Religion. Inzwischen hat Sara einen Studienplatz in Deutschland ab August – meine Nachfolgerin als Lektorin der Robert-Bosch-Stiftung und ich arbeiten daran, ihr das zu ermöglichen, auch ohne Zusage für ein Stipendium. Damit sie Perspektiven hat, frei zu sprechen.
Wir sind in Deutschland!
Und da sind wir. In Deutschland. Was ist das für ein Land im Jahr 2017? In dem wir konfrontiert werden mit den Grenzen der Freiheiten, die uns grenzenlos erschienen. Toleranz! Meinungsfreiheit!
Wir meinen, wir wären unabhängig und frei und könnten frei sprechen. Aber wie wollen wir es schaffen, auch weiterhin miteinander zu sprechen, wenn jeder seine eigenen Fakten hat? Das frage ich mich wirklich: Wie schaffen wir es, frei zu sprechen, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen, auch Protest zu zeigen, ohne den Andersdenkenden gegenüber sprachlos zu werden und unsere Gesellschaft in unüberwindbare Lager zu spalten? Gegen Hass, gegen Ausgrenzung, gegen Populismus, für Europa ein Zeichen setzen: ja! Unbedingt! Aber: Bei Demos, bei Konferenzen, bei Abenden wie diesem – da treffen wir auf Gleichgesinnte und versichern uns der Richtigkeit unserer eigenen Meinung. Ist das denn das, was wir, unser Land, diese Welt braucht: Menschen, die bei der Abwehr der Meinungen anderer einer Meinung sind?
Ist es das, was die 21jährige aus dem Nordirak an Deutschland schätzt? Ist es das, was Sara aus Usbekistan sich von Deutschland erhofft?
Wenn wir „vielfältig bewegen“ wollen, dürfen wir nicht im Lagerdenken stehen bleiben. Wir werden Antworten finden müssen, die mehr als unsere kleine Filterblase befürworten kann. Und dafür müssen wir uns mit Meinungen auseinandersetzen, die uns eigentlich zuwider sind. Ist das nicht ein wichtiges Element von Demokratie?
Konkreter kann ich selbst noch nicht benennen, wie wir das hinbekommen wollen. Wir sind alle in ganz unterschiedlichen Kontexten unterwegs. Bei jeder von uns kann dieses „bewegen“ anders aussehen.
Aber es muss mehr sein als Zeitung lesen und reden. Weil wir frei sprechen können. Und weil uns niemand vorschreibt, worüber oder mit wem wir reden. Was uns dabei motivieren kann? Die 21jährige ehemalige IS-Gefangene, die mehr Mut als alle von uns aufbringt. Sara, die usbekische Schülerin, die in einer kleinen postsowjetischen Bibliothek in der usbekischen Provinz ihren Verstand schult. Ihnen sind wir es schuldig. Sie motivieren zumindest mich – jeden Tag neu – etwas zu bewegen.