Flensburger Frauenmahl am 30. Oktober 2014
Tischrede von Susanne Brandt
Hier stehe ich – Orte des guten Lebens: Enge Wege unter weitem Himmel
Was lockt uns hinein in eine Geschichte, in ein Gedicht, in die Gedanken anderer Menschen, wenn wir lesen? Vielleicht sind es die erdachten, die wahrgenommene und in Worte gefassten Bilder, die gleichzeitig neue, eigene Bilder ins uns wecken.
In Worten zu leben, fremde Orte zu entdecken und Heimat zu finden – das kennen wir vermutlich alle.
Das gelingt nicht ohne Bilder, die uns von anderen Menschen in ihren Worten mitgeteilt werden. „Hier stehe ich“ – das teilen uns die Schreibenden immer wieder mit, wenn sie uns ihren „Standpunkt“ darlegen oder uns dazu anregen, einen eigenen „Standpunkt“ zum Gelesenen zu finden.
Gutes Leben aber findet nicht allein in solchen „Standpunkten“ seinen Ausdruck, findet vielleicht eher in Bewegung und Weite eine Heimat.
Ich möchte Ihnen eine Frau vorstellen, die in ihrem Tagebuch auf vielfältige Weise von Lebensorten und Lebensräumen erzählt hat – in einer Zeit, da ihr Leben von außen betrachtet alles andere als gut zu nennen war.
Ist das möglich, so frage ich mich beim Lesen ihrer Aufzeichnungen immer wieder, unter größter Enge, Bedrängnis und Bedrohung zu leben und sich dennoch aufgehoben und befreit zu fühlen in einem weiten Raum?
Etty Hillesum (1914-1943), von der hier die Rede ist, lebte in den 1940er Jahren als jüdische Studentin in Amsterdam. Auszüge aus ihrem 1941-1943 geführten und über die Zeit geretteten Tagebuch sind unter dem Titel „Das denkende Herz“ in deutscher Übersetzung erschienen. Sie wurde keine 30 Jahre alt und kam 1943 in Auschwitz um.
Wer heute in ihrem Tagebuch liest, spürt ihre Ahnung vom schmaler werdenden Weg, vom immer enger werdenden Raum, von der begrenzten Zeit ihres Lebens.
Und dennoch – oder gerade deshalb – beschreibt sie in ihrem Tagebuch „Orte guten Lebens“, aus denen sie sich von Machthabern der Gewalt nicht vertreiben lässt. Sie entdeckt die Kostbarkeit von Momenten, die sich zu einem großen Raum weiten können. Sie kreist in diesem Raum nicht nur um sich selbst, um ihren eigenen Kummer, um ihr eigenes Wohl. Sie erlebt die Ausweitung des Raumes in der Begegnung mit anderen Menschen – und mit Gott. Sie findet ein Zuhause in der Liebe – und traut gerade dieser Liebe eine unkonventionelle Weite zu.
Weite und Liebe, Raum und Zeit sind Themen, die ihr Denken und Schreiben durchziehen.
Sie kostet Momente aus, die sich zum Raum weiten, die nicht von ihr allein ausgefüllt werden, die Platz lassen zum Umherfliegen und den Blick öffnen für andere Räume.
(vgl. Eintrag vom 24. März 1941, Etty, Amsterdam 1986, S.46)
Was sie in solchen Räumen entdeckt, beschreibt sie an vielen Stellen mit Bildern von Landschaften: „Meine innere Landschaft besteht aus großen weiten Flächen, unendlich weit, da ist kaum ein Horizont, denn die eine Fläche geht über in die nächste […] Die innere Welt ist ebenso real wie die äußere Welt. Man muss sich das bewusst machen. Sie hat auch solche Landschaften, hat Konturen, hat Möglichkeiten, hat unbegrenzte Gebiete. Und man ist selbst das kleine Zentrum, wo Innen- und Außenwelt einander begegnen. Die beiden Welten werden dort ernährt, man darf die eine nicht vernachlässigen auf Kosten der anderen, die eine nicht wichtiger finden als die andere. Sonst verarmt die eigene Persönlichkeit.“ (Eintrag vom 11. Juni 1941, Etty, Amsterdam 1986, S.64)
Ein Jahr später, am 19. Juni 1942 – schon deutlicher unter dem Eindruck der Bedrohung, unter der sie und andere Juden leben, knüpft sie abermals an dieses Bild an:
„Auch über dem einzigen Weg, der uns verblieben ist, wölbt sich der gesamte Himmel…Der Himmel ist in mir ebenso weit gespannt wie über mir. Ich glaube an Gott und ich glaube an die Menschen, das wage ich ohne falsche Scham zu sagen.“ (Das denkende Herz, S.115)
Und einige Wochen später, am 11. Juli 1942 ergänzt sie: „Irgendwo in mir blüht der Jasmin unaufhörlich weiter, genauso überschwenglich und zart, wie er immer geblüht hat. Und sein Duft verbreitet sich um deinen Wohnsitz in meinem Inneren, mein Gott. Du siehst, ich sorge gut für dich. Ich bringe dir nicht nur meine Tränen und ängstlichen Vermutungen dar, ich bringe dir an diesem stürmischen, grauen Sonntagmorgen sogar duftenden Jasmin.“ (Das denkende Herz, S.150)
Orte guten Lebens im Wort?
Ohne das Leid und die Bedrängnis zu verharmlosen, unter denen Etty Hillesum und viele andere mit ihr gelebt haben und schließlich brutal ihres Lebens beraubt wurden – mir sind ihre Tagebuchaufzeichnungen sehr kostbar geworden.
Sie sind mir kostbar als Bilder für ein Leben, das seinen Wert und seine Würde behält, auch wenn es von außen massiven Einschränkungen und Bedrohungen ausgesetzt ist.
Sie sind mir kostbar als Kristallisationspunkte zwischen der Innen- und Außenwelt, an denen ich zu mir selbst finde und zugleich dem Du außerhalb von mir offen und liebevoll begegne.
Sie sind mir kostbar als Vision von Weite, die von innen wächst, auch wenn die Wege vor den eigenen Füßen enger und kürzer werden.
Sie sind mir kostbar als ein Bild des weitgespannten Himmels auf Erden, der nicht irgendwo im Jenseits zu finden ist, sondern immer dort, wo ich gerade stehe.
Hier stehe ich!
Susanne Brandt
Quellen der Zitate:
Etty. De nagelaten geschriften van Etty Hillesum. 1941-1943. Amsterdam, 1986 (dt. Fassung: eigene Übersetzung)
Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Reinbek b. Hamburg, 1985