Tabita Oehler – Trauerseelsorgerin

Tabitha Oehler
Trauerseelsorgerin

Tischrede für das Frauenmahl Darmstadt-Land in Roßdorf am 24.6.2017

„Trauer – Gefühle im ‚Tower’“

Sehr geehrte Damen,
ein sperriger Titel. Trauer- Gefühle im Tower. Tower, übersetzt: Turm Gefühle im Turm.
Was bedeutet das? Als erstes dachte ich an den Tower in London. Seit 1101 bis 1941 diente er als Gefängnis. Auch bei uns wurden Gefangene immer wieder in einen Turm gesperrt – dunkle Verliese, es gab Hexentürme in denen Frauen auf Ihre Hinrichtung warteten.
Dann gibt den zentralen Turm in einer Burganlage, den Bergfried, in den man sich bei einer Belagerung zurückziehen konnte.
Welche der Türme gilt nun für die Trauer – in welchem sitzen nun die Gefühle – oder die Trägerinnen der Gefühle – die Trauernden?
Ich denke in allen: (beiden) im Tower – dem Gefängnis, im Bergfried, der Zufluchtsstätte bei Gefahr, im Turmzimmer.
Im Tower: Ein Gefängnis hat zwei Funktionen: es soll die Gesellschaft vor Menschen schützen, von denen Gefahr auszugehen scheint. – Und es bestraft diejenigen, die sich nicht an die gesellschaftlichen Normen gehalten haben.
Ja, Trauernde fühlen sich manchmal auch von der Gesellschaft weggesperrt. Menschen wechseln die Straßenseite, wenn Trauernde ihnen begegnen. Andere sind schnell versucht, zu trösten, weil sie die Untröstlichkeit nicht aushalten.  Freunde möchten schnell ihre „alten Freunde“ wiederhaben. Doch das geht nicht. Die Erfahrung des Todes verändert. Trauernde werden medikamentös behandelt um wieder zu funktionieren. Trauernde Menschen machen uns Angst, verkörpern sie doch die Tatsache, dass im Leben Vieles nicht planbar ist und dass der Tod gegenwärtig ist. In unserer auf Spaß und „gut drauf sein- Gesellschaft erinnert der oder die Trauernde plötzlich daran, dass der der Spaß schnell vorbei sein kann. Das ist schwer auszuhalten. Vielleicht ist man aber auch nur unsicher im Umgang mit Trauernden. Wenn man sie als Gesellschaft zwar nicht direkt einsperrt, so möchte man doch, dass sie ihre traurigen Gefühle vor uns verbergen. Fühlen wir uns doch bedroht von diesen dunklen Gedanken.
Das Gefängnis ist aber auch eine Strafanstalt. Nicht, dass wir, die Gesellschaft jemanden dafür bestrafen möchten, wenn er oder sie einen großen Verlust erlitten hat. In dieses Gefängnis begeben sich die Trauernden oft von selbst. Sie mauern sich ein, verzehren sich in Schuld Konstrukten, sprechen sich jegliche Erlaubnis ab zu leben, weil der geliebte Mensch tot ist. Da ist es nicht einfach, eine kleine Tür zu finden um in diesen Turm zu gelangen und es ist schwer, es mit jemandem in diesem Gefängnisturm auszuhalten. Da herrscht Folter, Schmerz, Sehnsucht, Ausweglosigkeit.
Zum zweiten Turm,  dem Bergfried.
Er bietet Schutz, wenn von außen Gefahr droht. Man kann sich da hinein flüchten, wenn die Anforderungen von außen zu groß werden. Die Trauer macht uns Menschen sehr verletzlich, dünnhäutig. Wir brauchen Schutzräume, manchmal mit dicken Mauern. Wer trauert, fühlt sich vielen Anforderungen ausgesetzt. Der Verlust eines Menschen, der uns nahe steht, verändert die Innen- und die Außenwelt jeder Frau, jedes Mannes. Der Verlust bedingt, dass ich in der Trauer mein Selbstwertgefühle verlieren kann, dass ich die Zuversicht auf eine gelingende Zukunft nicht mehr habe, dass sich mein Weltbild verändert, mein Gottesbild vielleicht zerstört wird.
Äußerlich muss ich lernen, ohne den geliebten Menschen zu leben – stirbt etwa der Partner, ist die Frau Witwe, was meist Auswirkungen auf die finanzielle Situation hat, aber auch auf die praktische. Kann ich im Haus wohnen bleiben, wer hilft im Garten, mit wem plane ich meinen Urlaub? Dazu die Frage:  wer ist derjenige vertraute Mensch, mit dem ich mich austauschen kann.
Oder stirbt mein Kind, habe ich das Gefühl, dass die Reihenfolge unterbrochen ist, verliere ich einen Teil meiner eigenen Zukunft.
In einem langen Prozess muss ich begreifen, jeden Tag neu, dass der Tod wirklich ist, dass es ein „nie –wieder“ gibt, muss ich lernen, eine End-Gültigkeit zu akzeptieren.
Hinzu kommt eine Vielzahl von Gefühlen, die ich vorher vielleicht nie hatte. Sie rauben die Konzentration, sind einem peinlich, sind oft nicht beherrschbar. Gefühle müssen sich ausdrücken dürfen in unterschiedlicher Weise. Dann können sie helfen, einen Verlust zu bewältigen. Unterdrücke ich die Gefühle, zeigt uns oft der Körper, was Schmerz ist.
Wir sehnen uns nach dem geliebten Menschen und bekommen oft zu hören, dass man ihn „loslassen“ müsse. Wie schrecklich. Ich kann die Beziehung und Verbundenheit zu einem Menschen nicht zurücknehmen. Sie bleibt. Verabschieden muss ich mich von körpergebundenen Gemeinsamkeiten. Aber ich darf weiter lieben, weiter eine innere Verbundenheit haben. Trauernde, die sich mit ihren Verstorbenen in positiver Weise verbunden fühlen, sind offen für das Leben und die Menschen, denen sie begegnen.
Doch nicht nur Gefühle bewegen die Trauernden. Auch das Gehirn denkt in Höchstleistungen. Jede Warum-Frage bewirkt, dass wir über das Leben nachdenken, uns auf die Suche nach Sinn und Bedeutung des Lebens machen. Viele unserer Grundeinstellungen sind in Frage gestellt, neue Bewertungen, Einordnungen werden gebraucht.
Dazu kommt, dass wir immer wieder – besonders in der ersten Zeit des Verlustes, eigentlich nur irgendwie überleben können. Man atmet weiter, funktioniert nur noch, hangelt sich durch jeden Tag, übersteht die Nächte. Das kommt immer wieder, zwingt es uns auf, Pausen zu machen, uns zurück zu ziehen in unseren Bergfried, die Welt, die so fremd geworden ist, draußen zu lassen, die Verteidigung gegenüber gut gemeinter Ratschläge  auszusetzten.
Jede Trauernde braucht es immer wieder, sich in ihren Turm zurückziehen zu können um sich sicherer zu fühlen und um Kraft zu schöpfen für den Kampf ums Überleben.
Was ist nun meine Aufgabe in der Trauerseelsorge?
Denke ich an den Tower, dann  fühle ich mich in meiner Funktion als Trauerseelsorgerin wie eine Gefängniswärterin, bin dazu da, Nahrung zu bringen, Freigang im Hof zu gewähren und vielleicht gelingt es mir eines Tages, jemanden die Gefängnistür zu zeigen, durch die sie oder er  in Freiheit gelangen kann. Oder ich bin einfach nur ein Mensch, der die in Verzweiflung, Ausweglosigkeit und Untröstlichkeit gefangenen aushält.
Ich kläre auch auf, setzte mich dafür ein, dass Trauer gesellschaftsfähig wird, dass Trauernde in unserer Gesellschaft gelitten sind, dass man ihnen freundlich begegnet ohne ihnen die Trauer wegnehmen zu wollen. Denn nicht die Trauer ist das Problem, sondern der große Verlust. Die Trauer hilft uns, mit einem Verlust leben zu lernen.
 Ich wurde gefragt, in wie weit ich die Gesellschaft durch meine Arbeit verändere. Vielleicht kann ich durch das Einbringen des Themas Tod und Trauer zum Nachdenken beitragen, kann ich innerhalb des Dekanats dazu beitragen, dass Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft fühlen – im Tower eingesperrt, die Hoffnung haben, gesehen zu werden.
Ich denke aber vielmehr, dass ich weniger verändere. Es sind die Trauernden, die sich in ihrer Trauer verändern und ich gehe da vielleicht ein Stück mit.
Im Burgfried bin ich dabei, setzte mich manchmal mit hinein, biete Raum und Zeit für den Ausdruck der Gefühle, für die Fragen nach dem Warum, biete Möglichkeiten der Begegnung mit anderen, dem Austausch über das, was man fühlt, denkt, tut.
Ich lerne, wie Menschen sich verändern, das verändert mich und wenn ich davon berichte, verändert dies vielleicht ein Teil unserer Gesellschaft.
Also lassen sie sich verändern indem Sie Trauernden nicht ausweichen, indem Sie zuhören, versuchen zu verstehen. Sehen Sie die Menschen an, halten Sie sie ein Stück weit aus ohne Tipps zu geben und lernen Sie von ihnen.
Das ist für mich Reformation.

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