Ursula Cantieni – Schauspielerin

Ursula Cantienis Tischrede beim 2. Böblinger Frauenmahl am 24. Oktober 2015 in der Festen Burg

Heimat durch Nähe

Natürlich sind da Bilder im Kopf, im Herzen, Gerüche in der Nase, Klänge im Ohr –

        von früher,
        aus der Kindheit

die ersten Schneeballen… Achtung vor den Buben!
Ostereier aus Krokant, beim Heuen helfen – sich unter den Heinzen verstecken, Vermicelles bei "À Porta", sich im Laubhaufen einbuddeln lassen, die Nasenspitze schaut grad noch raus, beim Nachbarn im Stall beim Misten geholfen, frisch gemolkene Milch mit einem Strohhalm getrunken, mit den stinkenden Kleidern zum Abendessen, es war eh schon spät…
die Dampfnudeln von Frau Meyer, sie war Wienerin, – mit Vanillesauce, der Duft im Apfelkeller, so viele Sorten! – die Berner Rose machte sich wunderschön am Christbaum, die Lederrenette taugte zum Bratapfel, und der Glockenapfel hielt wacker bis Ostern durch.

An einem strahlenden Sommertag im August 1957, ich war neun, hieß es "ciao Klosters, ciao Prättigau und Bündner Berge – grüß Gott Stuttgart, Monte Scherbelino und Kartoffelsalat."

Klar, die Bergwelt hatte geprägt, ziemlich – dem gegenüber stand und steht meine Neugier:
 
        was kommt da,
        wie sind die Leute,
        wie ist es bei den anderen zu Hause,
        was dürfen die,
        was spielen die…
       
in der Schule, ach, fast alles von meinen ersten 3 Schuljahren musste erneut auf den Prüfstein.

Und heute:
            hier bin ich – ich bin hier,
            ich will keinen Weg zurück.

Ist das richtig – ist das gut – warum?

Wir sind beim Kernthema: Heimat durch Nähe.

Ist Heimat mein Geburtsland, ein Sehnsuchts- oder Erinnerungsort?
Oder ist Heimat ein Ort mit wichtigen, mir lieben Menschen, ein Ort für meine Entfaltung und Besinnung?

Einige Jahrzehnte habe ich schon hinter mich gebracht, ich wage einen kleinen Rückblick, samt Analyse.

… da kam die "Neue", damals 1957, sprach bissel langsam und holprig, mit Akzent, benutzte komische Wörter… Nidel, Trottoir und Velo, trotzdem gelangen ihr lange, phantasievolle Aufsätze.
 
In der evangelischen Jungschar hatte sie beim Handarbeiten, Basteln und Malen die Nase vorn… die Hypothek der eidgenössischen Präzisionsarbeit – als an der Musikhochschule Stuttgart eine Sprecherziehungsgruppe für Jugendliche eingerichtet wurde, fand meine Mutter:
nix wie hin, das Kind soll anständig sprechen lernen…
ohne den Dialekt aus dem Aug, oder besser von der Zunge zu verlieren! – das Schweizerdeutsch kam schwuppdiwupp in die Konservendose, nach Bedarf rausgeholt – und das Schwäbisch wurde heftig nebenher trainiert, natürlich by doing – den Kerle kennt i grad oogschpitzt en de Bode nei…

Alsbald, im Kathrinenstift, gründete ich die erste Theater-AG, vom Staatstheater bekamen wir die Kostüme, vom Karlsgymnasium die Jungs, die Direktorin hatte es erlaubt – wir hatten viel Spaß!

Sprache ist für mich Lebenselixier.

Sie ist Brücke, Teppich, Weckruf, Schutzschild, Code, Ventil, Essenz.

Sie wurde zu meinem Beruf, dem ersten, und weiter zu einem zentralen Teil meines jetzigen Berufes, der Schauspielerei.

Ich gehe so bewusst mit ihr um, weil ich sie so nicht in die Wiege gelegt bekam.

Ich durchleuchte, schleife – an der Wortwahl, beim Sätze bauen, Bilder finden, für das Geschriebene anders als für das Sprechen, den Ausdruck – bis hinein in die ganzheitliche Gestaltung.
Die Botschaft soll mit allen Fasern ausgestrahlt werden und beim Anderen in seinem Innersten Platz nehmen können.

Eine Arbeit für den Moment, im Jetzt –
    es verbindet sich –
        im geglückten Dialog ist mein Zuhause,
                es entsteht Nähe
                    meine Heimat

hier, und in dieser wunderbaren Sprache.

+ Gedicht von Rose Ausländer: Die Fremden

postdictum:

Auf dem Cover der Zeitschrift "money" lese ich die Headline:
"Wir werden alle ärmer werden" – ein Ausspruch vom Finanzexperten
Hans-Werner Sinn.
Hieße es nicht besser: "Teilen lernen – die neue Herausforderung!"

Das Neue Testament wäre dabei hilfreich…

Frauenmahl Logo