Viola Kennert – Superintendentin Ev. Kirchenkreis Neukölln

Frauenmahl, 21. Oktober 2016, Nikolaikirche, Eisenach
Tischrede von Viola Kennert, Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Neukölln (EKBO)

Wie sehen Frauen auf eine Kirche, die selbst der Vergebung bedürftig ist?
Wie sieht frau auf die Kirche, die von der Vergebung lebt?

Es gibt ein paar Stationen in meiner Biografie, die mich gelehrt haben, genau hinzusehen.
Das ist manchmal eine Schwäche, denn: Es kostet Zeit.
Es ist gleichzeitig eine Stärke, weil Ambivalenzen auch von der Freiheit erzählen, sich nicht – jedenfalls nicht zu schnell – festlegen zu lassen.

Vor 500 Jahren war die ganze Welt im Umbruch.
Die Reformation von Martin Luther ist nur ein Aspekt, der den ungeheuren Aufbruch in ein neues Zeitalter markiert.
Die neue Welt, Amerika, wurde entdeckt.
In Lateinamerika (aus der Vorstellung kennen Sie jetzt schon meine biografischen Verbindungen dorthin) gibt es keine Rede von der Entdeckung. Dort kennt man nur die Eroberung Amerikas (la conquista). Die Geschichte in Europa entwickelte sich mit der Macht, einen Kontinent entdeckt und sich zu Eigen gemacht zuhaben. Die Geschichte Amerikas hat eine lange Geschichte vor der Eroberung. Und mit der Eroberung beginnt die Zerstörung von Kultur und kulturellen Identitäten, von gestaltetem Leben und gelebter Religion.
Die christliche Kirche hat im Zuge, oder: Im Windschatten, der Zerstörung durch die Kolonialherren ihren Machtbereich ausgebaut und wild und willkürlich das Christentum mit europäischen Werten und Moral vermischt und (oft mit Gewalt) ausgebreitet, implantiert.

Doch:
Die christliche Kirche hat auch sensibel auf das Leben der indios geachtet,
mit ihnen gelebt und sie oft auch geschützt.
Fromme Männer und Frauen haben sich in ihren Überzeugungen nicht einschüchtern lassen, und haben die neuen Kulturen wertgeschätzt und sie vor den Unterdrückern geschützt.
Missionar*innen haben sich die Mühe gemacht, die vielen Sprachen zu lernen, und haben Gebete und Bibeltexte übersetzt. Eine Wertschätzung, die in diesem Jahr (Reformation und eine Welt) besonders geachtet wird.
Gott als Herrn der Welt zu verkündigen, heißt der Vielfalt unter den Menschen Raum geben.
Auch das hat Kirche gelebt und dieser Faden wurde einige Jahrhunderte später von Befreiungstheolog*innen aufgenommen.
Es ist und bleibt die große Hoffnung, dass die biblische Botschaft, die mit den Eroberern mit Unterdrückung, Gewalt und Macht verbreitet wurde – immer auch andere dazu befähigt hat, widerständig gegen das Unrecht aufzustehen. Das berührt mich und stärkt meine Zuversicht.
Ich erzähle es, weil es mich gelehrt hat, die Opfer-Perspektive zu achten, den Widerstand und die Aufbrüche wertzuschätzen.
Und es hat mich gelehrt, in der Kirchengeschichte, die ich später gelernt habe, immer diesen „roten Faden“ zu suchen. (Wobei rot für lebendig machendes, pulsierendes Blut steht)

Dazu noch zwei Erinnerungen:
In den 70iger Jahren wurde in der weltweiten christlichen Ökumene – gegen den Widerstand der sog. „großen etablierten“ Kirchen – die „strukturelle Gewalt“ als Macht entlarvt,
die Menschen einschränkt, begrenzt und festlegt.
In Südafrika, Lateinamerika, Asien, Nordamerika und Europa – überall wurde deutlich gesagt,

  • dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg,
  • dass weltwirtschaftliche Strukturen die einen zu Armen und die anderen zu Reichen machen,
  • dass festgefahrene Strukturen der Geschlechterordnung ungerecht sind,
  • dass Frieden und Gerechtigkeit nicht zu trennen sind,
  • dass die Armut in der Welt mit wirtschaftlichen Strukturen zugunsten der Reichen zusammenhängt hat sich langsam, aber sehr stetig in Theologie und kirchliches Leben eingebrannt.

Schließlich: Dass Ordnung –geordnetes Leben – eine gewisse Stabilität bedeuten kann, aber meistens um den Preis der Gerechtigkeit.
Es waren die Rufe aus dem Süden gen Norden, wobei es auch im Süden Reichtum und Privilegien gab und gibt und im Norden Armut und Unterdrückung.
Doch: Dass das Nord-Süd-Gefälle nicht nur von Politiker*innen, sondern eben auch von Theolog*innen als Herausforderungen benannt wurde – das war ein Ergebnis weltweiter ökumenischer Zusammenarbeit.
Der andere „rote Faden“, der lebt.

Die zweite Erinnerung:
Die erste europäische ökumenische Versammlung zum konziliaren Prozess „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“ fand in den achtziger Jahren in Basel statt.
Zur Abschlussversammlung überbrachte Heino Falcke aus Erfurt eine Grußbotschaft der dortigen – osteuropäischen – Versammlung.
Die Verbindung über und durch die Grenze, des sog. Eisernen Vorhangs,
hat mich tief bewegt.
Es war eine in dem Augenblick spürbare Erkenntnis, dass die weltweite Armut ein Unrecht ist, an dem auch Christen strukturell beteiligt sind.
Es ging um Norden und Süden in der Welt, nicht um Ost und West.
Da war er wieder: Der andere „rote Faden“, der lebt.

Nur ein Jahr später hatten wir in unserem Land die friedliche Revolution.
Mit Freudentränen und großer Hoffnung fielen nach und nach die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa und in unserem Land.
Sprachlich ist daraus die „Wende“ geworden. Es war keine Wende – es war ein mutiger Aufstand und Widerstand in unserem Land gegen ein unterdrückendes System, um Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden neu zu gestalten.Christen aus Ost und West waren in der Friedensbewegung in beiden Teilen unseres Landes – sichtbar und hörbar.
Der konziliare Prozess hat viele Menschen bewegt.
Der andere „rote Faden“, der lebt.
Wir haben uns in unserem Land zu wenig Zeit genommen, einander davon zu erzählen.
Da und dort habe ich es erlebt – dass diese Erfahrungen re-formuliert wurden.
Dann war und ist er spürbar, der andere „rote Faden“, der lebt.
In diesen Wochen und Monaten, die schon zu Jahren geworden sind,
sehe ich auf die Vielen, die treu und engagiert Flüchtlinge beherbergen,
ihnen helfen unsere Sprache zu lernen und unsere Kultur zu verstehen –
und mit ihnen auch neue lebendige Vielfalt zu entdecken.
Das ist schön und anstrengend.
Kirche setzt sich aus, wird gelobt und kritisiert, fühlt sich schwach und kämpft um gesellschaftliche Anerkennung – und ist nach wie vor stark, oft im Verborgenen.
Der andere „rote Faden“, der lebt.

Kirche ist gebeutelt. Gebeutelte Kirche.
Kirche: Wie ein Beutel, in dem viel drin ist.
Von außen sieht man auf das, was man sich wünscht.
So haben die Mächtigen der Geschichte, die Sieger, sich die Kirche auch zu Eigen gemacht.
Sie haben ihr etwas geboten, wenn sie sich anpasst.
Das begann sehr früh:
Die Anerkennung durch den Kaiser war mit der staatlichen Forderung nach klaren Abgrenzungen verbunden.
Eine geordnete Außensicht. So ist Kirche nutzbar und kalkulierbar.
Auch die Geschichte der Reformation ist auch eine Geschichte von Angeboten
der Mächtigen – und von der Standhaftigkeit der Ohnmächtigen.

Drinnen – sozusagen im Beutel – ist es bunter, vielfältiger, strittiger und uneinheitlicher.
Ich möchte das Bild nicht überstrapazieren, obwohl es mir wirklich gefällt.
Denn: Gebeutelt sein ist Unruhe, Erschöpfung – und auch Energie, etwas zu ändern.

Und vergib uns unsere Schuld – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Das ist die Verbindung von Vergebungsbedürftigkeit und Vergebungsbereitschaft in unserem täglichen Gebet.
Vergebungsbedürftigkeit ist der Mut zur dünnen Haut und zum ehrlichen Blick.
Die Feststellung, dass die Kirche mehr Verständnis für schuldige Täter als für unschuldige Opfer hat, hat mich getroffen. Dieser Vorwurf übersieht den „roten Faden“, den Fluss der unermüdlichen Solidarität der Kirche für die Armen und Entrechteten.
Übersieht das, was nicht in den Schlagzeilen steht.

Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden…
Das sind Worte, die Jesus in den Mund gelegt sind.
Die Macht, die eine wirtschaftliche, soziale oder moralische Machtstruktur durchsetzen will, hat eigene Interessen – und meistens auch schon ein ordnendes Bild, eine Ordnung, die sie durchsetzen will. Legitime Macht wird so auch zur strukturellen Gewalt.
Die Macht, dynamis, oder: empowerment, die Neues will, auch Unbekanntes ermöglichen – ist die andere Weise Macht zu haben und zu leben.
Auch innerhalb unserer Kirche können, müssen wir Macht neu buchstabieren, re-Formulieren.
Macht kann uns korrumpieren – und Macht kann Not abwenden und Neues ermöglichen,
Der entscheidende Unterschied ist die Vision:

  • Wollen wir eine Ordnung oder ein Spiel-, Denk- und Lebensraum?
  • Wollen wir geordnete Stabilität oder ein bleibendes faires Ringen um Gerechtigkeit und Frieden?

Re-Formulieren.
Neue Bilder, neue Worte, neue Wege suchen und finden.
Sorgsam mit der Sprache umgehen, und das heißt auch vor-sichtig, umsichtig Sprache zu nutzen und zu entwickeln, genau klären, was wir meinen und wie wir es meinen.
Macht
Frieden
Gerechtigkeit
Diese drei brauchen immer eine Definition, einen Kontext. Welchen Kontext bieten wir als Kirche diesen Worten?

Kirche ist eine Struktur,
die sich ihren Raum schafft und auch verteidigt, um Gutes zu bewirken. Dabei ist die Kirche wie jede andere Struktur auch anfällig, ihre Interessen losgelöst von den ursprünglichen Zielen zu verteidigen,
und um Anerkennung zu ringen.
Doch – von wem will sie anerkannt werden?

Ich entdecke blinde Flecken bei unserer Kirche- (das sind die Ecken in Herz und Sinn, die wir übersehen):
Sehnsucht nach Anerkennung in der Welt – die Strukturen der Mächtigen werden kopiert.
Sehnsucht nach Ordnung und Stabilität – beides wird mit Frieden verwechselt.
Sehnsucht nach klaren Strukturen – darin lauert die Gefahr, dass Strukturen unabänderlich hart und ungerecht werden.
Sehnsucht nach Heimat – übersehen wird die Gefahr, Heimat mit nationaler Identität und Recht auf Eigentum zu verwechseln.

Vergebungsbedürftigkeit wird spürbar, wenn die eigenen blinden Flecken erkannt und gespürt werden. Wenn Kirche spürt, dass sie in einem Beutel steckt und nicht in einer geschützten Truhe.
Die Stöße und Anstöße der Zeit sind spürbar. Das bewahrt Sensibilität.
Ich sehe in den Beutel hinein.
Wer den Inhalt eines Beutels ordnen will, hat ein Bild vor Augen und muss rigide sortieren und räumen, manchmal auch aussortieren.
Wer den Inhalt eines Beutels lässt, muss immer suchen –
und findet auch immer das, was gebraucht wird.
Es dauert nur länger.

Dieses Bild inspiriert mich, um noch einen letzten Gedanken zu wagen:
Gemeinsames Leben, Gemeinschaft, Sozialität entsteht, geschieht und lebt aus und durch Verhandlungen.
Verhandeln ist angesagt – nicht ordnen.
Verhandlungen sind ergebnisoffen. Wer Ordnen will, hat schon ein Ziel.
Kirche Jesu Christi ist frei, zu verhandeln mit und in der Welt.
Herausfinden, was der Liebe Gottes entspricht, Wege und Umwege wertschätzen, Fehler einsehen und Neues ausprobieren.
Verhandlungen brauchen Zeit.
Zeit neu zu Formulieren,
Zeit zu Verhandeln,
Zeit zu Beten.

Am Ende – eine Einsicht und ein Bild:
Das Paradies ist ein schön geordneter Garten – das liegt hinter uns. Vor uns das himmlische Jerusalem – die Stadt. Die Perspektive biblischer Zukunftshoffnung ist die Stadt.
Laut, unbequem – der Raum, in dem das Leben miteinander ausgehalten und verhandelt wird.
Himmlische Aussicht ist ein miteinander ausgehandeltes Leben: Das ist ein Wortbild für Gerechtigkeit.
Erfüllte Sehnsucht ist ein Gleichgewicht von Gewinn und Verzicht: Das ist ein Wortbild für Frieden.

Gebeutelt Kirche sein.
Ich spüre – dann ist Kirche mir vertraut, ist liebenswürdig und wertvoll.
Das Bild von der Kirche im Beutel nehme ich mit und ich lege es uns allen ans Herz:
Geschubst, vernachlässigt, in die Ecke gestellt – und doch voller Lebensmittel, die satt und froh machen.

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